Bestürzende Idyllen

Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow (1921)
Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow (1921) ⎜ 🔍
Asmik Grigorian und Lukas Geniusas - Dissonance - Cover

© 2022 Alpha Classics

Rachmaninow ist nicht Schubert und Asmik Grigorian ist nicht La Schwarzkopf. Nein, dies ist kein engstirniges Werturteil zum Nachteil der Ersteren; es ist das Eingeständnis meiner durchaus engstirnigen Fixierung auf Letztere. Eine gewisse Ratlosigkeit beim ersten Hören des Liederalbums »Dissonance«[1] von Asmik Grigorian (Sopran) und Lukas Geniušas (Klavier) hatte wohl damit zu tun. Die Auswahl von 19 Romanzen aus sechs verschiedenen Liederzyklen Sergei W. Rachmaninows schien mir zwischen Baum und Borke zu klingen. Weder Fisch noch Fleisch auf dem Plattenteller, war ich mir unsicher, welches Besteck denn nun zu nehmen sei.

Mikrokosmos

Wilhelm August Rieder: Franz Schubert

Wilhelm August Rieder: Franz Schubert (1875)

»Das deutsche Kunstlied« ist eigentlich ein Pleonasmus und »Schubert-Lieder« ein landläufiges Synonym. Um Franzls Referenz gruppiert sich eine eng geführte Tradition, die sich gegen Grenzüberschreitungen und Übertragungen zu sperren scheint. »Le Lied de Schübér« oder »Lieders by Schubert«, alle Welt schaut auf diesen Brennpunkt und sieht unter’m Glas die Größe der kleinen feinen Form.

Am Brunnen vor dem Tore[2] wurde der Markstein gesetzt. Vielversprechendes führt zu ihm hin, manch Großartiges leitet sich von ihm ab, doch alles mag auf ihn bezogen sein. Mozarts Lieder sind Vorläufer, Schumanns Dichterliebe und Liederkreis schon im Schlepptau. Mit feinster Nadel gestochene Miniaturen, diskrete Verdichtung in der Begleitung, höchste Stilisierung auf kleinstem Raum.

Die Herleitung vom Volkslied ist ideologischer Natur: Eine nostalgische Berufung auf die naive Reinheit des Gefühls und eine bescheidene Natürlichkeit des Ausdrucks folgt dem romantischen Ideal ungekünstelter Volkstümlichkeit. Formal ist die Romantik des Kunstlieds allerdings klassisch verfasst; das typisch Deutsche daran gehorcht der strengen Wiener Form. Weit entfernt von »Volkes Stimme«, ist der bildungsbürgerliche Liederabend die höchst elitäre Zelebrierung distinguierten Formgefühls.

Makrokosmos

Wer diese strikte Form sprengen will, muss sich ein ganz neues Gehäuse bauen. Das Orchesterlied sucht den weiten Raum für die ausladend dramatische Geste. Der symphonische, oft mächtig besetzte, Klangkörper stützt das große Pathos und färbt den ausgelebten Affekt. Die Nähe zur theatralischen Konzertarie und der Feierlichkeit des Oratoriums geht mit einer Entfernung vom verdichteten Mikrokosmos einer bis zum Äußersten verfeinerten Liedkultur einher.

Operatic Power

Asmik Grigorian, seit ihrer Salzburger Festspiel-Salome von 2018 die unisono gefeierte Opernstimme, betont den Unterschied ihrer neu eingespielten Rachmaninow-Romanzen zum kammermusikalischen Purismus der Liedertradition mit überzeugendem Nachdruck: Mit »operatic power« müssten sie vorgetragen werden.

Hier mag meine eingangs erwähnte Ratlosigkeit eingehakt haben. Grigorians opulent ausgesungener Opernsopran geht eine durchaus ungewöhnliche Klanggemeinschaft mit einer Klavierbegleitung von subtiler Konventionalität ein. Kontrolliert zurückgenommen, manchmal reduziert auf skizzenhafte Andeutungen, hier und da eine melodische Randbemerkung, ab und zu ein originelles Aperçu. Doch Lukas Geniušas hält den Zauberkasten geschlossen. Keinerlei virtuose special effects, völliger Verzicht auf show & shine. Wer die Pyrotechnik des rachmaninowschen Klavierwerks erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen kultivierte Diskretion, strenge Disziplin und puritanische Deflation des Ornaments – Lieder-like ist die Begleitung, opernhaft dramatisch, bisweilen exaltiert sogar, ist die darüber hinweg brandende Stimmführung.

Meine anfängliche Irritation hatte wohl mit diesem Ungleichgewicht der Kräfte zu tun. Ich gebe zu, ein gewisser Verdacht war mir gekommen: Ob hier nicht ein dionysischer Overkill des Gesangs das apollinische Piano-Fundament planiert, der emphatische Überschwang die filigrane Fassung gesprengt hatte? Doch war ich derart eingenommen, dass mein Vorurteil mir rasch bedenklich wurde. Womöglich war der vermeintliche »Kategorienfehler« in der Form, doch eher einer fehlerhaften Kategorisierung meines allzu konventionellen Gehörs geschuldet?

Isolation und Idylle

Die Idylle als Schauplatz von Wehmut und Herzeleid ist der romantische Topos schlechthin. In den Szenerien guten Lebens, vor allem in einer symbolisch überhöhten und romantisch verklärten Natur, stimmt das lyrische Ich seine Klage an. An rauschenden Bächlein, bei klappernden Mühlen, an stillen Seen, auf lauschiger Lichtung trauert es um verlorene Liebe und vergangenes Glück.

Franz Schubert/Heinrich Müller: Einsamkeit

»Wie eine trübe Wolke
Durch heitre Lüfte geht,
Wann in der
Tannen Wipfel
Ein mattes Lüftchen weht:

So zieh‘ ich meine Straße
Dahin mit trägem Fuß,
Durch helles, frohes Leben,
Einsam und ohne Gruß.

Ach, daß die Luft so ruhig!
Ach, daß die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten,
War ich so elend nicht.
«[3]

Elend empfindet sich das »Liedsubjekt« nicht in den Elendsquartieren lebensfeindlicher Städte, sondern in einer freien und freundlichen Natur, heiße Tränen vergießt es »in einem kühlen Grunde«[4] und entfremdet erfährt es sich in der heilen Welt dörflicher Gemeinschaft: »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.«[5]

Der Kontrast schärft die Konturen eines anderen Lebens, das sich in der eigenen Empfindsamkeit, nicht aber im Leben der Anderen aufgehoben weiß. Ist das Glück auch unerreichbar, so liegt es doch zum Greifen nahe. Schmerzlich weiß das lyrische Ich um ein gelingendes Leben, das ihm versagt blieb, das ihn zugleich anzieht und ausschließt. Die Zwiespältigkeiten von nah und fern, Lust und Leid, Glück und Schmerz, Fremdsein und Vertrautheit, die das romantische Lied gegeneinander führt, spielen stets innerhalb einer Idylle, in der eine empfindsame Seele ihre Isolation erfährt.

Jenseits der Idylle

Auch Rachmaninows russische Romanzen besingen lauschige Idyllen und Szenen von vergangenem Liebesglück und gegenwärtigem Liebesleid. Inventar und Personal sind jedoch grundsätzlich anders aufgestellt. Das lyrische Subjekt steht außerhalb der Idylle. Dem guten Leben, einer glückenden Begegnung steht es fassungslos gegenüber. Das Schöne, Gute und Wahre fallen auseinander und scheinen einer fremden Welt zu entstammen. Der Zusammenstoß mit diesem ganz und gar Anderen führt zu schmerzhafter Verletzung und stürzt den Träumer einer heilen Welt in einen geradezu existenziellen Selbstzweifel.

Zu schön, um wahr zu sein

Unwirklich, kaum zu glauben, erscheinen Glück und Geborgenheit als ein befremdliches Hirngespinst. Der Traum ist hier nicht »traumhaft schöner« Ausdruck eines ausgerichteten Sehnens und Verlangens, sondern beunruhigender Zweifel am eigenen Gefühl.

Natalja Skalon: The Dream (Op. 8, Nr. 5)

»I too had a native land,
Which was so beautiful!
A fir tree swayed over me there…
But that was a dream!

A clan of friends still lived then,
Surrounding me on all sides
And speaking words of love to me…
But that was a dream!
«[6]

Das schrecklich Schöne

Schroffer noch, grausam und niederdrückend, begegnet das fremde Glück dem bestürzten Betrachter. Wie die unerfüllbare »trügerische Hoffnung« am Grunde von Pandoras Büchse, scheint alles Gute die Qual des Menschen nur zu verlängern indem es ihm seine Wunden offen hält.

Galina Galina: How painful for me (Op. 21, Nr. 12)

»How painful this is, yet how I yearn to live…
How fresh and fragrant the spring!
No! I cannot stifle my heart
On this pale blue, sleepless night.

If only old age would come more quickly,
If only the hoarfrost would gild my locks,
Would that the nightingale no longer sang for me,
Would that the forest no longer murmured for me.

Let not the song burst from my soul,
Through the lilacs to the distant horizon,
If only I did not feel such unbearable sorrow
In this silence.
«[7]

»Let not the song burst from my soul«, heißt es im gesungenen Text. Doch genau das geschieht in diesen Liedern, die die Seele sprengen. Über schwelgende Sehnsucht und bittersüße Wehmut, die milde Melancholie des fahrenden Gesellen sind sie hinweg. Asmik Grigorian steht mit dem Rücken zur Wand und singt von der Klippe. 

Nach der Romantik

Rachmaninow, »der letzte Romantiker«, hat in seinem Klavierwerk und vor allem mit seiner 2. Symphonie (Op. 27, III, Adagio) das neunzehnte Jahrhundert bis weit ins zwanzigste gedehnt. Der süffige Wohlklang hält sich einen Vorbehalt gegen die sperrigen Neuerungen moderner Zeitgenossen zugute. Die gegenläufige Kritik hegt den Verdacht, hier habe sich nostalgischer Kitsch und reaktionäre Gefühligkeit aus der Zeit gestohlen.

Ein Vorwurf, der nicht so leicht zu entkräften ist. Der Rachmaninow-Liebhaber braucht eben seinen Trotz und wird die Adorno-Lektüre geflissentlich vermeiden. Meine aufgelegte Platte sollte freilich vom wohlfeilen (Spät)Romantik-Bashing unbetroffen bleiben. Der Titel, vom ersten Stück Dissonance (Op. 34, Nr. 13) übernommen, macht durchaus auch seinen programmatischen Sinn und vermag meine anfängliche Irritation aufzulösen.

Postromantische Dissonanz

Nein, es ist keine Frage der Eingängigkeit! Manche der klassischen Modernen (Mahler, Strauss, Wolf, allemal Schönberg) klingen durchaus »widerständiger«, sind in ihrer ausgewogenen Formbalance zwischen Stimme und Begleitung der Kunstlied-Referenz (und meinem altbacken biederen Gehör) allerdings ungleich näher, als die mit ungeheurer Verve aus dem Gleichgewicht gestoßenen »Miniaturopern« (Asmik Grigorian) auf einem seit Wochen in heavy rotation gehörten Album.

Weder Lukas Geniušas’ feinsinniges Piano, noch Asmik Grigorians emphatische operatic power »dissonieren«, für sich genommen, auch nur im mindesten. Die Dissonanz ist keineswegs klanglich-harmonischer Natur. Sie ergibt sich »weltanschaulich« aus einem fassungslosen Aufbegehren angesichts der entglittenen Idylle einer befremdlich schönen Welt. Im vergleichbaren Pathos der ersten Duineser Elegie könnte man sich diesen verzweifelten spirit einer postromantischen Romantik erläutern lassen:

»Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören.
«[8]


[1] Asmik Grigorian (Sopran) und Lukas Geniušas (Klavier): Dissonance, Alpha Classics 2022 (ALPHA796), Outhere Music. Rachmaninow-Lieder aus den Zyklen Op. 4, 8, 14, 21, 26 und 34.

[2] Franz Schubert/Heinrich Müller: Der Lindenbaum, das fünfte Lied der Winterreise (D 911, 5).

[3] A. a. O.: Einsamkeit, das 12 Lied der Winterreise (D 911, 12).

[4] Joseph von Eichendorff: In einem kühlen Grunde auch Das zerbrochene Ringlein, zahlreiche Vertonungen, darunter die wohl bekannteste von Friedrich Glück.

[5] A. a. O, Gute Nacht, die programmatischen ersten beiden Verse des ersten Lieds der Winterreise (D 911, 1).

[6] Nr. 15) Natalja Dmitrijevna Skalon: The Dream, Op.8 No.5. Die Übersetzungen der Liedtexte sind dem CD-Booklet entnommen: Dissonance, Alpha Classics 2022 (ALPHA796), Outhere Music.

[7] Nr. 12) Galina Galina: How painful for me, Op. 21, Nr. 12. A. a. O.

[8] Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, Die erste Elegie.


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© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Rachmaninow: Wikimedia | Asmik Grigorian und Lukas Geniušas: Dissonance, Cover: © Alpha Classics 2022 (ALPHA796) | Franz Schubert: Wikimedia

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