Kreuzimmunität

Edvard Munch: Melancholie – KODE Art Museums, Bergen
Edvard Munch: Melancholie – KODE Art Museums, Bergen ⎜ 🔍

Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Keiner sei gefasst auf sie und niemand gefeit vor ihr, wenn sie heimtückisch und ohne Vorwarnung ihr argloses Opfer überfällt. Die Depression kommt aus heiterem Himmel und unversehens verdunkelt sich gerade das sonnige Gemüt. Mag es wohl daran liegen, dass Melancholiker nicht depressiv werden?

Auf überschaubarer empirischer Datenbasis, also von mir auf alle anderen schließend, versuch’ ich’s mal ganz dreist ins denkbar Unreine:

Eine Impfanalogie bietet sich an: Ahnungsvoll, doch eher tentativ ins Blaue (also genau wie ich), ging Dr. Edward Jenner dem »Milchmädchen-Mythos« nach. Melkerinnen, die sich zuvor mit den sogenannten »Kuhpocken« infiziert hatten, schienen offenbar nicht an den gefürchteten »echten Pocken« zu erkranken.

► »Das Harmlose ist des Schlimmeren Feind.«

Eine zweite Analogie geht auf Gewöhnung und Adaption: Eskimo erfrieren nicht und Tuareg bekommen keinen Hitzschlag.

► »In abgedunkelten Lebensräumen ist eine Sonnenfinsternis mit Fassung zu tragen.«

Die reizvollste und vielleicht aussichtsreichste dritte Analogie zielt auf die Errungenschaft des »Weltschmerzes«.

► »Das melancholische Gemüt mag Selbsterfahrung und Weltsicht nicht voneinander trennen.«

Der Melancholiker sieht sich nicht als Opfer niederdrückender Affekte, sondern stilisiert sich – selten frei von Eitelkeit – als »Vertreter einer Geisteshaltung« mit starkem Integrationspotential und weitreichendem Distanzierungsvermögen.

► »Schatten werfen keine Schatten.«

Finstere Stimmungen fallen nicht über den Melancholiker her, oder in sein Leben ein, sondern sie kommen traulich herbei und stimmen in eine immer schon klingende melancholische »Stimmungslage« ein und werden so »harmonisch entkräftet«.

Die dunklen Akzente passen sich relativierend (und relativiert) in das »Weltbild« des Melancholikers ein und verlieren so ihre isolierte (und isolierende) Durchschlagskraft. Ton in Ton changierend verlieren sich die krassen Kontraste im vertrauten Farbverlauf eines nuancenreichen Gemüts.

Sollte an der Immunitätshypothese, dass ein melancholisches Temperament vor Depression, zumindest ihren schweren Verläufen, geschützt sei, etwas dran sein, dann dürfte das ätiologisch kaum in besonderer antidepressiver Resilienz oder der schmerzvoll erworbenen Abhärtung einer ohnehin leidgeplagten Seele liegen. Zu den harten Burschen mit ausgeprägtem Kampfgeist und einer Widerstandskraft, die zu proaktiver Vorneverteidigung neigt, wird der Melancholiker ja wohl kaum gerechnet.

Eher gilt er als nachgiebiger, duldsamer, passiver Charakter, der sich freilich einiges auf seine rezeptiven Vermögen, sein empfängliches, weltdurchlässiges Gespür zugutehält. Er weiß sein schwermütiges Temperament durch eine »Erkenntnisdimension« seines Erlebens entschädigt, die bisweilen einen eigentümlich »melancholischen Hochmut« nährt.

Die Empfindsamkeit, die nicht erst die Romantik zur gründlichen Schulung empfahl, verspricht ein Finden, das sich der auswärtig forschenden Suche enthielt. Tut das inwendig dann auch noch ach so wehe, spürt der Melancholiker nicht nur seine Seele wirken, fühlt sich nicht nur fühlen, sondern sieht sich und seinem »Nachtgesicht« eine Welt eröffnet, ein »Wissen« erschlossen, das dem helleren Gemüt (wie auch dem Depressiven) verwehrt zu bleiben scheint. Auch die düstersten Anwandlungen versprechen so noch eine aussichtsreiche Konversion des Geläufigen: Goethes Glückskeksspruch (und Götz von Berlichingens zweitbeliebteste Wortmeldung) »Wo viel Licht ist, ist starker Schatten« funktioniert für den berufenen Trübsalbläser eben auch vice versa!

Else Lasker-Schüler (1907)

Else Lasker-Schüler (1907)

In »Ein Lied«[1] von 1917 scheint Else Lasker-Schüler eine, verglichen mit dem Ton ihrer Zeit, recht konventionelle Liebesklage anzustimmen. Doch spielt die Pointe des Gedichts oberhalb des eher flachen Herz-Schmerz-Parterres in einem durchaus subtilen zweiten Stockwerk. In dieser Meta-Etage preist die empfindsame Seele in reflexiver Selbstüberhöhung den »Lohn der Traurigkeit«. Ein privilegiertes Sensorium erschließt der melancholisch Begünstigten eine Sphäre, die dem schlicht und wohlgemut Gestimmten abweisend dunkel, allein dem Mann im Mond zugänglich erscheint:

»O ich bin so traurig – – – –
Das Gesicht im Mond weiß es.

Drum ist viel sammtne Andacht
Und nahender Frühmorgen um mich.«



[1] Else Lasker-Schüler: Ein Lied. Gesammelte Gedichte. Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, erste Auflage 1917, Seite 126.

Zum »melancholischen Hochmut« vgl. das Sonett ►»Der Melancholiker« und die Sprachblase ►»Von Nichts kommt nichts«.

© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Melancholie (Munch): Wikimedia

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