Schwankende Gestalten
Seit Jahrzehnten mal wieder Debussy gehört. Mit einem überraschenden impression shift. Dem geläufigen retrospektiven Verdacht gegenüber der eigenen jugendlichen Begeisterung scheint eine abgeklärte Skepsis gegenüber seinen eigenen Vorbehalten von einst zu entsprechen. Es war, ich muss es heute wohl widerwillig einsehen, eine durchaus hellhörige musique à jour: Verpeilte Töne für verwirrte Zeiten.
Ich glaube, neu war der Versuch einer konsequenten Ausdrucksverweigerung, die vorsätzliche Subtraktion des Subjekts. Weniger impressionistische Empfangsbereitschaft, als vielmehr die (anti-expressionistische) Reserve gegenüber jedem Sendungsbewusstsein. Die konzentrierte Bewusstlosigkeit gibt sich der permanenten Ablenkung anheim. Der Formwille will endlich überwunden sein.
Sich selbst aus der Rechnung nehmen, die Welt ohne mich »denken«, sägen am Ast, auf dem wir sitzen. Die Eliminierung der Perspektive, richtungsloser Drift, der selbst-widersprüchlich Sinn-lose stream of sensation.
Programm, Idee und Konzept ist vielleicht tatsächlich das »Streaming«. Die organische Einheit des Kunstwerks ist dahin. Flüchtig die Teile, die nicht mehr Bestandteile eines Kompositums sind. Was weg ist, ist weg. Wir schwelgen in uferloser Unübersichtlichkeit, Anfang und Ende stets außerhalb jeder Reichweite. Ein schwereloses Schweben im Buffering der fortlaufenden Ersetzung des Undurchschauten durchs Unvorhergesehene – Surprise statt Reprise.
Ich bin nach wie vor dagegen, doch, wie schon bei den »bildenden« ► Jägern des Augenblicks, stellt sich im Nachdenken der eigenen Ablehnung eine distanzierte Aufgeschlossenheit ein, die gewisse Reize anerkennt.
Das frivole Kokettieren mit dem eigenen Unvermögen eröffnet einen Spielraum des Tentativen von beträchtlichem Desorientierungspotential. Der Kick der Irrungen, ein Thrill der Wirrungen, prickelnd planlos durch den dunklen Märchenwald.
Blinde Kuh: Augen zu, zehnmal um die eigene Achse und aus dem Gleichgewicht gedreht, taumelnd, torkelnd, tastend und tappend erregen wir uns auf grundlosem Terrain in der überspannten Erwartung, uns beim nächsten Schritt ins Bodenlose zu verlieren. – »Schlafwandler sein« oder »Schlafwandler spielen« … macht das wirklich noch einen Unterschied … solange sich die Nackenhaare sträuben und die Gänsehaut sich aufstellt?
Schwankende Nachtgänger mit großen Erwartungen waren die Zielgruppe. Dass die sich nur allzu bald in den Schützengräben wieder finden würden, war mit verbundenen Augen nicht vorauszusehen, nicht mit Händen zu greifen, doch eine Ahnung war zu hören. – Es kam etwas auf sie zu.[1]
[1] Vgl. Christopher Clarks klug gewählten Titel: »Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.« Im Grundrauschen der Unübersichtlichkeit verliert die kriminalistische Suche nach der smoking gun ihren überschaubaren Sinn.
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Zur impressionistischen Malerei vgl. ►»Jäger des Augenblicks«.
© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Debussy: Wikimedia