Song des Tages

Billie Holiday - Song des Tages
Billie Holiday im Downbeat Club, New York 1947

Kim Gordon: I Don’t Miss My Mind

Album: The Collective (2024)


Wieviel Kim und wieviel Thurston steckte in Sonic Youth? Die Frage kann man sich anlässlich des neuen Soloalbums von Kim Gordon mal wieder stellen. Die irre verstimmten Moore-Gitarren fehlen, aber auch ohne das hektische Fast & Furious Geschredder klingt die Platte durchaus vollwertig und ungeschmälert nach dem hippen Vernissagerock von einst, ohne jedoch in nostalgisches Ü70 Revival oder grummeligen Alterstrotz zu verfallen.

»Noise-Rock« lautete die Fremd-, »No Wave« die Selbstzuschreibung der musikalischen Avantgarde der frühen 80er. Witzig, ironisch und durchaus treffend, denn gewissenhaft wahrten die autonomen Geräuschemacher dissonante Distanz nach allen Seiten. Auch wenn man die Platte nicht unbedingt abendfüllend hören muss, erinnert Kim Gordons Neue an diese erfrischende 360°-Gefälligkeitsverweigerung und ruft eine linke Intellektualität, ein »wokes Zeitgefühl« und eine freisinnige Unbotmässigkeit ins Gedächtnis, bevor derlei Befremdliches in der verkniffenen Kleinbürgermissgunst und dem streberhaften Moralismus neulinker Fleißsternchensammler versumpfte.

Urbane Coolness statt provinzieller Spießigkeit und piefiger Schrebergärtnermentalitität. Selbstredende Lakonie statt aufgesetzter Betroffenheitsgesten. Eine eigensinnig spröde Selbstständigkeit, die sich nicht den konformistischen Tautologien biederer Normgesinnung unterordnet. Links mit Stil und Esprit, doch, das geht immer noch, wenn man erstmal den 70sten hinter sich hat und es sich leisten kann, jenseits von Gut und Böse zu manövrieren.

Klaus Nomi & Nanette Scriba: The Cold Song

Henry Purcell: King Arthur, 3. Akt (1691)


Leben ist Leiden. Konsequent erscheint der Wunsch nach einem raschen Ende. Verzweifelter jedoch ist die Klage, überhaupt geboren worden zu sein. Ein uraltes Motiv von Homer bis Hiob, von Milton bis Mary Shelley, das im Vorwurf an den Schöpfer, gar in der Verfluchung dessen gipfelt, der einen in ein elendes Dasein gezwungen hat.

Bibbernd, schluchzend, wenn nicht gar in todessehnsüchtiger Schnappatmung, beklagt Purcells Cold Genius (der Frostgeist, ein einsames Wesen aus dem Eis) sein tiefgekühltes Dasein. Die Arie »What power art thou« ist eine Nummernarie aus der sogenannten Semi Opera »King Arthur, or The British Worthy«, die sich weitgehend selbstständig gemacht hat und neben einem weiteren Klagelied, Dido’s Lament (»When I am laid in earth«)*, aus »Dido and Aeneas« zu Purcells bekanntesten Vokalstücken gehört.

What power art thou, who from below
Hast made me rise unwillingly and slow
From beds of everlasting snow?
See’st thou not how stiff and wondrous old
Far unfit to bear the bitter cold,
I can scarcely move or draw my breath?
Let me, let me freeze again to death.

Die britische »Semi-Oper« ist, ähnlich wie das deutsche »Singspiel«, eine Mischform von gesprochenem und gesungem Text. Während das Singspiel einen Erzähler oder einzelne Sprechrollen enthält (etwa den Bassa Selim in Mozarts Entführung), liegt bei der semi opera das Schwergewicht auf dem Sprechtheater, das streckenweise durch einem »Soundtrack« untermalt und mit aufwändig gestalteten Tanz- und Gesangsnummern aufgelockert und angereichert wird. Der eher lockere Zusammenhang mit dem dramatischen Geschehen begünstigt das musikalische Exzerpt und gerade in diesem Fall die Auskopplung eines One-Hit-Wonders aus einem insgesamt doch recht sperrigem Abendfüller.

Aus dem Zusammenhang gerissen bleibt der Hörer freilich in eisiger Depression befangen, während die schaurige Daseinsklage eigentlich in eine rührende Frühlingsszene eingebunden ist, die einem weiteren Allmachtsbeweis der Liebe dienen soll. Cupido hatte nämlich den Eismann aus der Kälteschlaf geweckt, taut ihn schließlich vollends auf und läßt ihn erkennen: Omnia vincit amor, hurra, hurra, der Frühling ist da:

’Tis Love, ’tis Love, ’tis Love
that has warm’d us.
In spite of the weather
He brought us together.
’Tis Love, ’tis Love, ’tis Love
that has warm’d us.

Ein recht gute deutsche Übertragung scheint mir Nanette Scriba gelungen zu sein.

* Alle große Stimmen haben Didos Klage gesungen, weniger bekannt, aber hörenswert wie alles von ihm, ist die Fassung von Jeff Buckley.

© 2023 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Billie Holiday: Wikimedia

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