Joni Mitchell: Both Sides Now
Album: Both Sides Now (2000)
Alle Jahre wieder bekommt der Song einen weiteren Schubs, wenn der unvermeidliche Weihnachtsfilm »Tatsächlich… Liebe« (Love, Actually) läuft. Eine seichte, aber doch ganz nette Episoden-Romcom mit ansprechendem Soundtrack. Emma Thompson outet sich ihrem Mann Alan Rickman gegenüber als lebenslanger Fan: »Joni Mitchell tought your cold english wife how to feel«. Der merkt sich das, denn in der Vorweihnachtszeit hört man lieber mal hin. Sie entdeckt allerdings eine Halskette, die, so glaubt sie, ihr zugedacht sei.
Am Weihnachtsabend kommt es dann freilich dicke. Sie öffnet ein Päckchen im gleichen Format und sieht (nur) … Joni Mitchells »Both Sides Now«. Alan Rickmans unbeholfene Erläuterung »…to continue your emotional education« treibt ihr das Wasser in die Augen, denn jetzt ist es raus: wer kriegt nun wohl die Kette? Es bleibt der empathische Beistand einer weisen, durch alle Wetter des Lebens gegangenen Frau mit einem Song, der seit Jahrzehnten geplagten Damen im schwierigen Alter bei der Lebens- und Liebesbewältigung zum Trost gereicht: Anderen geht’s auch nicht besser.
Midlifemadrigal, Klimakterialkantate oder, man soll ja nicht ätzen, die schwermütige Bilanzballade par excellence ist mit Erscheinen zur Jahrtausendwende schon über dreißig Jahre im seelsorgerischen Einsatz. Sie wurde erstmals auf JMs zweiten (Durchbruchs-) Album »Clouds« (1969) als eindringlich schlichter Graswurzel-Folksong veröffentlicht und zog mit 1675 belegten Coverversionen und zahlreichen Fassungen von JM selbst weite Kreise.
Die erste Version mag, von einem Twenty-Something-Hippie gesungen, etwas altklug rüberkommen und mutet mit dem klaren und hellen Sopran vielleicht auch etwas scharfkantig an. Erheblich tiefer und altersbedingt nachgedunkelt wirkt nicht nur die Stimme, der ganze Habitus in JMs 2000er Aufnahme scheint düsterer, belegter und damit deutlich glaubwürdiger für einen Abgesang auf jugendliche Frühlingsträume. Auch das beidseitige (auf dem Backcover zeigt sich JM von der Rückseite) Selbstporträt ist auf den Punkt. Es wirkt, wie in einen Hopper reingezoomt, fatalistisch und desillusioniert, dabei aber auch so tapfer lebensmüde, dass sich in das Mitgefühl ein gewisser Respekt mischt.
Opulent orchestriert beginnt ein konzertierter Frontalangriff auf die Tränendrüsen. – Joni Mitchel berichtet in einem Interview mit Elton John (ab 13:14 zu Both Sides Now), die unterkühlten britischen Philharmoniker hätten während der Aufnahme geweint. – Auf Wirkung bedacht werden die weichen Stellen beknetet und der Song treibt scheinbar unausweichlich auf kitschige Untiefen zu. Doch nach gut der Hälfte kommt bei 3:04 ein kluger Lotse an Bord. Wayne Shorter nimmt mit seinem Tenorsaxophon das Thema auf und das Steuer in die Hand. Auch wenn er noch einmal zurücktritt und den dramatisch anschwellenden Streichern vorübergehend das Feld überlässt, bleibt er präsent, wechselt zum Sopransaxophon und beginnt mit einigen wohlgesetzten Kurskorrekturen die Richtung des Songs zu drehen und damit dessen Gesamtcharakter komplett zu verändern.
Mit ein paar spitzen, geradezu schnippischen Marginalien setzt er der anflutenden Gefühligkeit einige ernüchternde Tautologien entgegen, die den Hörer wieder in die Spur bringen. – C’est la vie – ’S is wie’s is – Was muss das muss – Was hattet ihr erwartet? – Man ist geneigt, die façon wieder zu gewinnen, Haltung anzunehmen und sich wieder einzukriegen. Mit einem würdevollem Finale, nun wieder mit Tenorsax, erscheint das stark gesüßte Selbstmitleid derart gefasst und episodisch eingefriedet, dass man sich in versöhnlicher Distanz noch einmal zurückwenden möchte, nicht ohne sich in milder Ironie selbst zu beschmunzeln.
Ohne Wayne Shorters lebensweisen Kommentar erschiene das Lied als, zugegeben wirkungsvolles, sentimentales Rührstück. Mit seinen klugen Anmerkungen betrachten wir eine Anwandlung, die man sich gelegentlich leisten sollte und die durchaus auch einen großen Song wert ist.
© 2023 Christoph D. Hoffmann
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