Songs des Tages | Seite 2

Griffbrett - Song des Tages

Claudio Monteverdi: Pur ti miro
L’incoronazione di Poppea, Finale III. Akt (1642/43)


»Ich schau dir in die Augen, Kleiner.« (Poppea: Pur ti miro)
»You’re The One That I Want« (Nerone: pur ti godo) …

Claudio Monteverdi (Porträt von Bernardo Strozzi um 1630)

Claudio Monteverdi (Porträt von Bernardo Strozzi um 1630)

… wäre eine durchaus textnahe Übersetzung, doch würde sie dem vielleicht plattesten, bestimmt aber einem der schönsten Duette der Operngeschichte einen Tiefgang verordnen, den Monteverdi (1567 – 1643) zum Finale seiner letzten Oper gerade vermeiden wollte. Heimlich, still und leise, vor allem aber schlicht bis an die Debilitätsgrenze, und nicht im Triumphzug des Caesaren wird der Sieg eines perfiden Wettstreits verkündet.

Ein Vorspiel auf dem Theater: Virtù und Fortuna streiten über die Oberhoheit im Weltgeschehen, den Führungsanspruch über das Menschengeschlecht. Es werden deutliche Worte gewechselt. Ein blindes Geschick gegen die abgewirtschaftete Tugend. Wenn zwei sich streiten freut sich der dritte. Amor tritt hinzu und erhebt den Anspruch, nicht nur Himmels-, sondern Weltmacht zu sein. Die Oper beginnt, Vorhang auf, hier kommt der Beweis.

Das Traumpaar, Nero und Poppea, muss nicht erst opernüblich zueinander finden. Bereits in der Eröffnungsszene ist es unbesorgt im Ehebruch vereint. Doch die ausgediente Kaiserin Ottavia muss weg, um den Weg zur Krönung der Poppea freizumachen. Ruchlose Intrigen, ein Mordkomplott, Seneca wird der Selbstmord nahegelegt, Poppea wird Kaiserin, Nero hat es in bewährter Manier mal wieder gerichtet.

Die Tugend hat natürlich keinen Fuß in die Tür gekriegt. Nero und Poppea bleiben sich treu und ganz und gar sie selbst. Der verkommene Antichrist und seine machtgeile Schnalle erweisen sich als zuverlässig läuterungsresistent, wie man es von den Schlechtesten der Schlechten erwarten darf und auch Fortuna vermittelt keine fügende Schickung der Götter. Alles kam so schlimm wie es kommen musste. Doch omnia vincit amor … völlig moralinfrei, reichlich zynisch und mit maliziösem Augenzwinkern erweist sich Amors Sieg in der unhintergehbaren Banalität des Guten und einer zauberhaft trivialen Cavatine … pur ti miro, pur ti godo … quod erat demonstrandum.

(Die Poppea gilt als erste öffentlich (und nicht im höfischen Rahmen) gespielte Publikumsoper und wurde zur venezianischen Karnevalssaison 1642/43 uraufgeführt. Die anarchische Botschaft ist dem Anlass geradezu perfekt angemessen. Die Serenissima, ein rechtsfreier Raum, die Tugend auf Zwangsurlaub, a bisserl was geht immer im carne vale, der Wertschöpfung im Fleische.)

Die gesamte Oper bis zum 11.07.2024 in der ARTE-Mediathek.

Ryūichi Sakamoto ( 28. März 2023): 20220207
Album: 12 (2023)

Die Bearbeitung eines großen und schweren Themas, des größten zumal, und die Verarbeitung desselben durch den unmittelbar Betroffenen unterscheiden sich, weitgehend unabhängig von der Qualität, durch die Befangenheit, mit der wir als Hörer, Leser, Zuschauer ein Sterbe-Werk kontaminieren. Peinlich berührt fühlen wir uns in eine distanzlose Unmittelbarkeit einbezogen, wo wir doch nur allzu gerne Abstand gehalten hätten. Schlingensiefs aufbegehrendes Pathos in einer Kirche der Angst, Herrndorfs beklemmend minutiöser Blog Arbeit und Struktur oder Gernhardts diskrete Zurückhaltung in seinen K-Gedichten, wir fühlen uns ebenso unwillkürlich wie unwillkommen angesprochen … warte nur, balde ruhest du auch. Mit Ryūichi Sakamotos letzter Platte ergeht es einem nicht anders.

Ryūichi Sakamoto

Ryūichi Sakamoto

Datierte Journaleinträge, der Tagesform geschuldet. Ein dutzend introvertierte Klavierskizzen, wie zur Wiedervorlage notiert. Doch der Einsendeschluss steht bereits fest. Atemgeräusche, ein scharfer Luftzug, verklingende Gongs, flächiges Synthie-Klangbett, ein kühles Windspiel zum Abschluss. Durchscheinend collagierte Nebenklänge, die weder untermalen, noch mit Bedeutung schwängern wollen. Unbetroffen spielen sie herbei. Ernst und gelassen wahrt Sakamoto einen Ton der Vorläufigkeit und zeichnet seine flüchtige Spur ins unbeschadet weitergehende Leben.

(Großartig das Cover: Wie nehmen sich die Anstreichungen eines Lebens wohl aus? Die komplette Album-Playlist.)

Buckethead: Jordan
Game: Guitar Hero II (2006)

Buckethead

Brian Patrick Carroll (Buckethead)

Nein, noch wird am Jordan nicht auch noch umgegraben. Brian Patrick Carroll (Buckethead) schrieb das Stück wohl als Hommage an Michael Jordan (na ja) und veröffentlichte es als Playable Tune für das Spiel Guitar Hero II. – Der Karpaltunnel wird’s danken.

Der Gefühlswert mag sich wohl in Grenzen halten, doch dafür ist das Stück auch bestimmt nicht tanzbar.

Arctic Monkeys: Big Ideas
Album: The Car (2022)

Wenn die Coolness bis ins Arktische sich steigert, mögen sich Haltung und Attitüde gerne ein bisschen mischen. Soweit bleibt alles in der Spur, doch ist die exaltierte Schnoddrigkeit, die stylische Lässigkeit einem Dandyismus der exquisierteren Preisklasse gewichen. Zum völlig ungebundenen Selbstzweck freigesetzt, erhebt er den Stil zum Prinzip, den abgespreizten kleinen Finger zur Hauptsache, die Gardenie im Knopfloch zur Kernbotschaft.

Postmodern verrätselt haben die verspielten Spiegeläffchen womöglich irgendetwas Ernstzunehmdes im Hinterkopf, doch sollte man sich von beschwerlicher Sinnsuche nicht das leichtfertige Vergnügen an den eleganten Nebensachen verderben lassen. Aufgetischt wird nämlich eine ziemlich kulinarisch angerichtete Garnitur, opulent dekorierter Tafelschmuck und eine dekandente Fülle des Ornaments. Das mag den überschaubaren Nährwert leicht vergessen lassen.

Die Gentrifizierung des Brit Pop: Edel, erlesen, aber eben auch eitel bis zum Umschlag ins Geckenhafte … »wo entlang geht’s nochmal zur Vanity Fair?« Auf jeden Fall hörenswert, wenn man schmunzelnd an stolzierende Pfauen in britischen Landschaftsgärten denkt, an Oscar Wilde, Hugh Grant, Brideshead und Gesellschaftsromane von Henry James. Man trägt handgenähte Anzüge aus der Savile Row mit viel zu weit raushängenden Einstecktüchern und nippt an seinem Sherry, zur blauen Stunde auf Arctic Manor.

Sonic Youth: Tunic (Song For Karen)
Album: Goo (1990)

Nicht dem berüchtigten Typus der Karen gewidmet, der gerade in aller Munde ist, sondern eine Art Nachruf auf die früh an Magersucht gestorbene Carpenters-Schwester. Die Bezugnahme auf das Krankheitsbild kommt mir ein wenig vordergründig vor (I feel like I’m disappearing, getting smaller every day, but I look in the mirror, I’m bigger in every way) und stuft den Kick des Songs unfreiwillig zurück.

Der liegt im Kontrast von Thurston Moores treibend schrammelnder Gitarre und Kim Gordons lakonischem Sprechgesang. Glaubt man, im Refrain käme schließlich doch noch eine Melodie in die Gänge, wird lähmender Stillstand konstatiert – You aren’t never going anywhere, I ain’t never going anywhere … – Gehetzt auf der Stelle treten, bis zum Burnout überdreht, Vollgas bei durchgetretener Bremse, der Meltdown … und ich kann nicht springen, und ich kann nicht gehen, und vor allen Dingen kann ich hier nicht stehen.

(Übrigens nicht die einzige Hommage an Karen Carpenter. Thurston Moores Coverversion von Superstar ist wohl etwas aufgerauht und kommt deutlich schmirgelnder rüber als das Original, doch ist der Brückenschlag aufs gegenüberliegende Ufer des musikalischen Spektrums vollkommen ironiefrei und aufrichtig freundlich gemeint.)

The Stooges: I Wanna Be Your Dog
Album: The Stooges (1969)

Dass das Matriarchat die Regierungsform der Zukunft werden würde, war bereits zeitig abzusehen. Was kann der reguläre Cis-Mann unternehmen, will er sich nicht selbst zum erbärmlichen Incel marginalisieren? Schon früh rieten die Stooges zu vorauseilendem Gehorsam:

So messed up, I want you here
In my room, I want you here
Now we’re gonna be face-to-face
And I’ll lay right down in my favorite place
And now I wanna be your dog …

Gil Scott-Heron: Me And the Devil
Album: I’m New Here (2010)

Gerade erst (zu Halloween) wurde er wieder häufiger gesichtet, doch die Folklore hat einfach das Beruhigende abgehefteter Mythen an sich. Ähnliches gilt für den Deltablues Me And the Devil von Robert Johnson, der zwar unzählige Male gecovert wurde, doch ansonsten im Songbook-Archiv ruhig und sicher lag.

Die Fassung von Gil Scott-Heron, knapp ein Jahr vor seinem Tod veröffentlicht, lässt es einem frostig über den Rücken laufen. Die Szenerie erscheint modern, urban und zeitgenössisch. Unvorherhörbar, völlig unabhängig von der Songstruktur, fällt das Techno-Stakkato eines Störgeräuschs ein. Die Vergegenwärtigung satanischer Präsenz? Schaurig ist vor allem der Umstand, dass uns der Leibhaftige nicht etwa auf den Fersen ist, sondern traulich Seit’ an Seit’ neben uns geht.

Robert Johnson wusste wovon er schrieb und sang, hatte er doch seine Seele dem Teufel verkauft, bevor er mit gerade mal 27 (sic!) starb. Während der Ort des Teufelspaktes belegt ist, blieb sein Grab (sofern es eines gab) bis heute unauffindbar.

Charles Aznavour: Hier encore
Album: Que c’est triste Venise (1964)

Die Blätter, sie fallen und all die Jahre hinterher. Der Traurigste der Traurigen wirft einen bitteren Blick zurück und saugt Honig aus vertanem Leben und verschwendeter Jugend:

Hier encore j’avais vingt ans
Mais j’ai perdu mon temps
À faire des folies
Qui ne me laissent au fond
Rien de vraiment précis
Que quelques rides au front
Et la peur de l’ennui
Car mes amours sont mortes avant que d’exister
Mes amis sont partis et ne reviendront pas
Par ma faute j’ai fait le vide autour de moi
Et j’ai gâché ma vie et mes jeunes années …
Où sont-ils à présent
À présent mes vingt ans?

Oh welch köstliche Nahrung für eine ebensolche Herbstdepression.

Cigarettes After Sex: Nothing’s Gonna Hurt You Baby
Album: Cigarettes After Sex (2017)

Omne animal post coitum triste est, deshalb brauchte es die Zigarette danach. Ist sie doch das perfekte, weil (dem Problem) angemessene Trostpflaster: »You must have a cigarette. A cigarette is the perfect type of a perfect pleasure. It is exquisite, and it leaves one unsatisfied. What more can one want?« (wie es im Dorian Gray heißt). Motivierende Resignation, die zum Weiterspielen einlädt, das mag auch für diese Platte gelten.

Bemerkenswert, Greg Gonzalez’ zweigleisige Stimme. Ein sonorer Sprechbass, doch eine Gesangsstimme, die außergewöhnlich »trans-inter-divers« anmutet. Weder Countertenor noch forciertes Falsett, sondern ein dunkel gedecktes Schlafzimmer-Timbre, das ein wenig angeraucht nach Chan Marshall oder auch leicht übermüdet nach Hope Sandoval klingt und sich an deren Ambient Vibes bei Mazzy Star (s. o) anlehnt.

Death Cab for Cutie: Asphalt Meadows
Album: Asphalt Meadows (2022)

Album- und Songtitel lassen an den »Pflasterstrand« denken und nachdem die Vorgängerplatte mit »Thank You for Today« (2018) ein bisschen nach evangelischem Kirchentag klang, hätte man von einer sogenannten Alternative-Indierock-Band die Rückkehr zum Grip und Drive der Jahrtausendwende erwarten können. Doch der Zahn der Zeit hat auch an DCFC (vergangenes Jahr feierten sie Silberhochzeit) geknabbert. Aber hilft ja nix, der Altersmilde kann wohl niemand entrinnen. So lässt man sich also von ebenmäßig getakteten Drums und einer sanft geflangeten Gitarre durch einen einnehmend schlichten Popsong ziehen.

Greentea Peng: Stuck In the Middle
Album: Greenzone 108 (2022)

In der Mitte, der weltschaulichen zumal, festzustecken ist ein weitverbreitetes Unbehagen, doch noch lange kein Grund zu wichtigtuerischer Protestgebärde. In schlenderndem Flow und britischem Understatement vergewissert sich Greentea Peng einer gelassenen Verweigerungshaltung:

Stuck in the middle
I have been pushed, I have been pulled
There is no leading me, no more astray
I have been pushed, I have been pulled
There is no need …

… klar sollte man ein bisschen mit den Rändern liebäugeln, die zentrifugalen Kräfte nicht völlig erlahmen lassen, doch bitte keinen hektischen Alarm, sonst überhört man leicht, dass sich bereits etwas Ungemütliches zusammenbraut:

Listen closely, what’s that sound?
Rising up from the underground
Their head ain’t lost but it still ain’t found
Ain’t in the habit of sticking around
Ain’t in the habit of sticking around
No no no

Bei all dem Gedränge in der Mitte der Gesellschaft könnten wir doch eigentlich ein wenig Platz machen, oder nicht?

Baby Rose: All To Myself
Album: All To Myself (2020)

Bei Zarah Leander ist bestimmt nicht mal ein Wunder gescheh’n: Eine herbe Wuchtbrumme mit entsprechend stimmigem Organ, das fügte sich geradezu naturwüchsig zur Marke. Doch ein zartbesaitetes Persönchen mit einem derart abgehangenen und überreifen Kontraalt irritiert im düsteren Kontrast von Ton und Tonträgerin.

Vom Ex geghostet, wieder mal die Red Flags übersehen, welch trostloses Elend, ein ums andere Mal. Man hat wohl schon von solchen Geschichten gehört. Doch verleiht der Subwoofer von Baby Rose den herzerweichenden Gemeinplätzen ein gewisses Gewicht. Den altväterlichen Ratschlag, dass die Zeit doch alle Wunden heile, lässt man vorsorglich lieber mal stecken.

Brigitte Bardot: La madrague
Album (mit Serge Gainsbourg): Bonnie and Clyde (1968)

Zu keinem Zeitpunkt ist der Abstand zur Sommerfrische größer als im Oktober, muss er doch nach tocotronischem Kalender dreifach addiert werden. Ein charmantes kleines Seestückchen mag uns über die unausweichliche Herbstmelancholie hinwegtrösten:

Sur la plage abandonnée
Coquillages et crustacés
Qui l’eût cru! Déplorent la perte de l’été
Qui depuis s’en est allé.

(Der woke Canceler mag sich übrigens beruhigen. Den ehemaligen Front National, mit dem BB aus Tierschutzgründen (das Schächten bitte ächten) für eine Weile sympathisierte, gab es in den unschuldigen Sechzigern noch gar nicht.)

Gisela João: Já Não Choro Por Ti
Album: AuRora (2021)

Ein Aggiornamento hehrer Traditionsbestände ist ohnehin ein verdächtiges Unterfangen. Handelt es sich, wie beim Fado, auch noch um den Tabernakel eines altehrwürdigen Nationalgefühls, dann droht dem zeitgenössischen Anschluss an die Klassiker des portugiesischen Klageliedes ein heikler slippery slope. Allzu leicht könnte die Saudade in die Niederungen der volkstümlichen Hitparade abrutschen. Geschmackssicher, doch unbeschwert von puristischem Denkmalschutz, lässt Gisela João der süßen Wehmut freien Lauf. Der metallische Klang der Portugiesischen Gitarre schneidet scharfe Konturen zum Schutz vor Kitsch und billiger Gefühligkeit.

Leo Fifty Five: Rois du monde
Album: 55 (2023)

Zugegeben, ein klein bisschen prollig kommt er schon rüber, doch wird die naheliegende Erwartungshaltung überraschend unterlaufen. Musik aus der Banlieue lässt an Videos von lebensmüden Parcoursläufern und handfeste Feindseligkeiten im St. Denis Style denken. Man hat den Brennpunkt-Spirit von Suprême NTM (s. u.) im Ohr und ist auf brennende Mollis gefasst, die aus dem 18. Stock gepurzelt kommen. Stattdessen hören wir schwungvollen Prekariatspop mit überschaubarem Problembewusstsein. Easy listening und affirmative Fahrstuhlmusik? – D’accord, doch warum schnipst ihr alle mit dem Finger?

Yeah Yeah Yeahs: Different Today
Album: Cool It Down (2022)

Ist ja für die ganz besonders coolen Stylees nicht so leicht, in die mittleren Jahre zu kommen. Man hängt ein Sabbatical ans andere und übers Sich-neu-Erfinden findet sich die Frage, »ob’s die eigentlich noch gibt«. Doch ein Comeback in den Vierzigern, das muss nicht unbedingt schief gehen und nach Self-Cover klingen. Nach neun Jahren offensichtlich entspannten Zeitvertreibs verschont uns die (vergleichsweise) Neue von den Yeah Yeah Yeahs mit Selbstfindungsberichten und Krisenbewältigung. Sie sind ins atmosphärische Alter gekommen und meiden die Botschaft. Sie verhalten sich ihrem Alter entsprechend und nehmen es erfreulich gelassen, heutzutage einfach ein bisschen anders rüberzukommen: Es gibt eben nur cool und uncool und wie man sich fühlt.

Eric Satie: Pièces Froides
Reinbert de Leeuw: Satie Piano Works (1980)

Satie war nie so mein’s. Der heavy rotation seiner »Gymnopédies« und »Gnossiennes« folgte regelmäßig mein genervtes Augenrollen: stimmungsträchtige Jingles und esoterische Meditationssamples mit allzu breitem Anwendungsspektrum – hach sind wir heute wieder kontemplativ. Aber die »Kühlen Stücke« haben durchaus anziehendes Potential – weniger durch die magnetische Kraft Satiescher Schwebeklänge. Eher wirkt hier ein Vakuum des Gefühls. Das Impressionistische lebt vom strikten Verzicht aufs Expressive, von einer konsequent unpathetischen »Ausdrucksenthaltung«. Der Titel »Pièces Froides« macht durchaus guten Sinn. In klirrendem Frost hört man den Rauhreif knirschen. Wir werden ganz und gar unsentimental erfrischt.

Danzig: Mother
Album: Danzig (1988)

Muttertag vergessen? An der Tanke raus und die letzten welken Tulpen mit Ferrero Küsschen kaufen. Ob man den zerknirschten Blick auch glaubwürdig rüberbringt? Das hängt wohl stark von der Tagesform ab. Doch allzu geschmeidig und gebeugt, das nimmt sie uns ja eh nicht ab. Auf den letzten Kilometern also Fenster runter, Volume rauf und den Kopf in den Fahrtwind. Sich lieber ein bisschen den Rücken stärken lassen und sich mit diesem One-Hit-Wonder (die Danziger werden mich lynchen) noch was Gutes tun.

Kali Uchis: Moonlight
Album: Red Moon in Venus (2023)

Die neue post-feminist femininity und eine lustbetonte body positivity, die Anita Ekberg in die Fontana di Trevi folgen möchte, bekennt Farbe, zeigt ihr Gesicht und manches mehr. Von Kali Uchis klingt das alles ein bisschen gechillter, smoother und cooler als bei den programmatischeren Verfechterinnen. Lasziv, träge und mit genau dem Maß an Langeweile, das es braucht, um sich vorteilhaft mit sich selbst zu beschäftigen. Soll so sein und, wenn ich schon mal dabei bin, ein bisschen billig hat auch seinen Wert.

Yo La Tengo: Fallout
Album: This Stupid World (2023)

Ja, dass es die auch noch gibt?! Und offenbar 40 Jahre lang immer fleißig. Und dabei so was von entspannt und indie und alternative und dabei doch meistens vorneweg. Die All-Time-Boomer-Mucke nun auch für den Ruhestand. Aber ich will gar nicht ätzen. Nicht immer muss man »sich neu erfinden«, darf auch gerne mal nach vergangenen Jahrtausenden klingen, wenn’s denn kein lauer Aufguss des immer gleichen Teebeutelchens ist. Und das kann man ihnen eigentlich nicht vorwerfen. Dass all die linken Artigkeiten mittlerweile staatstragend und ungeheuer nervig geworden sind, sollte man zu subtrahieren wissen. Es war immerhin eine Generation, die kopflosen Nachrüstungsbeschlüssen noch etwas reservierter gegenüber stand, als man das gegenwärtig voraussetzen darf.

The Linda Lindas: Growing Up
Album: Growing Up (2022)

War Punk denn nun Spirit oder Stil, Lebensart oder Genre, Habitus oder Modelabel? Seit Malcolm McLarens gestylten Boygroups ein Streit, der nie entschieden, wohl aber im spaßgetriebenen Post-Post-Punk der 90er in breitentaugliches Wohlgefallen aufgelöst wurde. Bereits den Eltern der Linda Lindas dürften Hass und Selbstverstümmelung abhanden gekommen sein. Den Töchtern aus gutem Hause jedenfalls sind die sprichwörtlichen drei Akkorde in 170 bpm und knuffige Katzenvideos offensichtlich kein Widerspruch mehr. Mögen ergraute Dead-Kennedys-Grumpies die violettgesäumten Sid-Vicous-Narben und angebissenen Ohrmuscheln vermissen, man sollte die vier auch so mal machen lassen, denn altklug ist schließlich klug genug.

Luciano Pavarotti: Di rigori armato il seno
Richard Strauss: Der Rosenkavalier, 1. Akt

A propos Arien-Single-Charts, eine köstliche Persiflage der transalpinen Nummernoper mit ihren Belcanto-Hits und zugleich eine entlarvende Parodie der musikalischen Süßwarenverkostung ist der »Italienische Sänger«, der der Marschallin und ihrer Entourage zum Lever sein Appetithäppchen serviert. Maliziös ironisch, aber eben auch ein unwiderstehlicher Earcatcher. Bei den großen Aufführungen wird gern ein big shot eingeflogen (wie hier Pavarotti in Wien), der dann für zwei Minuten sein hochpreisiges Pralinée kredenzt, das Klischee des Stehtenors bedient und vorführt, was es heißt, als Kulturäffchen und Effekthascher ein gefälliges »Kabinettstückchen« abzuliefern. Genial doppelbödig: der vermeintliche Kenner möchte verächtlich das elitäre Näschen über die bildungsfernen Häppchenkonsumenten rümpfen und sperrt sich arrogant gegen den süßlich-südländischen Kitsch, kann sich dann aber doch dem Schmelz der Banalität nicht entziehen.

Charles Trenet: Que reste-t-il de nos amours?
Album: Definitive Collection (2018)

Der Cliché-Chanson schlechthin, und doch von zeitloser Gültigkeit. Herbststimmung an den Seine-Quais, den Mantelkragen hochgeschlagen, Gauloise im Mundwinkel. Der verwehenden Rauchfahne hinterher treiben wir in ein anderes Leben. Wir waren schon mal hier … im Frühjahr … Jahrzehnte zuvor. – Sepiafarbene Photographien, verblasste Liebesbriefe, Reliquienverehrung. – Seinerzeit hießen wir noch Antoine Doinel und hatten Christine Darbon den ersten Kuss abgeluchst. Im Vor- und Nachspann, gerne auch mal zwischendrin, hat Trenets Klassiker in Truffauts »Baisers Volés« (deutsch robust: »Geraubte Küsse«) eine würdige zweite Heimat gefunden und sieht sich daselbst im Titel geehrt:
»Bonheur fané, cheveux au vent,
Baisers volés, rêves mouvants.
Que reste-t-il de tout cela,
Dites-le-moi.
«

Yaeji: Passed Me By
Album: With A Hammer (2023)

Dies scheint der Frühling ihres Missvergnügens, doch ist der Titular-Hammer, den Kathy Yaeji Lee durch ihr Debütalbum schleppt, eher subtiler Deutungshinweis als Werkzeug erfrischender Befreiungsschläge. Hier wütet nicht etwa ein Riot Grrrl der letzten Generation. Ein zartes Animepüppchen rollt in stillem Zorn mit ihren großen Augen. Wer es sich im Ambient-House bequem machen möchte, sollte den drohenden Unterton des infantil hochgepitchten Stimmchens nicht überhören: »Today has been a little weak, a little strong, I light a little fire, anything that touches me will evaporate and fly higher and higher.«

Lana Del Rey: A&W | Album: Did you know
that there’s a tunnel under Ocean Blvd (2023)

Der Mythos einer Stadt der Engel, der gefallenen zumal, lebt vom Chiaroscuro. Die grelle Strahlung mit den trügerisch funkelnden Reflexen der Traumfabrik kontrastiert mit der morbiden Düsternis der schwarzen Serie, dem Boulevard der Dämmerung, den schaurigen Perversionen des David-Lynch-Ambientes. Lana Del Reys neue Platte spielt im Souterrain des Molochs und hallt durch die Katakomben einer doch so offenherzig flachen Stadt. Image und Masche der Dark Lady konsolidieren sich allmählich zur Idee und die Schwarze Dahlie bekennt: »This is the experiеnce of bein‘ an american whore.«

© 2023 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Gitarrengriffbrett: Pixabay

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