Songs des Tages

Vox Verstärker - Song des Tages
Gisela João: Já Não Choro Por Ti
Album: AuRora (2021)

Ein Aggiornamento hehrer Traditionsbestände ist ohnehin ein verdächtiges Unterfangen. Handelt es sich, wie beim Fado, auch noch um den Tabernakel eines altehrwürdigen Nationalgefühls, dann droht dem zeitgenössischen Anschluss an die Klassiker des portugiesischen Klageliedes ein heikler slippery slope. Allzu leicht könnte die Saudade in die Niederungen der volkstümlichen Hitparade abrutschen. Geschmackssicher, doch unbeschwert von puristischem Denkmalschutz, lässt Gisela João der süßen Wehmut freien Lauf. Der metallische Klang der Portugiesischen Gitarre schneidet scharfe Konturen zum Schutz vor Kitsch und billiger Gefühligkeit.

Leo Fifty Five: Roi du monde
Album: 55 (2023)

Zugegeben, ein klein bisschen prollig kommt er schon rüber, doch wird die naheliegende Erwartungshaltung überraschend unterlaufen. Musik aus der Banlieue lässt an Videos von lebensmüden Parcoursläufern und handfeste Feindseligkeiten im St. Denis Style denken. Man hat den Brennpunkt-Spirit von Suprême NTM (s. u.) im Ohr und ist auf brennende Mollis gefasst, die aus dem 18. Stock gepurzelt kommen. Stattdessen hören wir schwungvollen Prekariatspop mit überschaubarem Problembewusstsein. Easy listening und affirmative Fahrstuhlmusik? – D’accord, doch warum schnipst ihr alle mit dem Finger?

Yeah Yeah Yeahs: Different Today
Album: Cool It Down (2022)

Ist ja für die ganz besonders coolen Stylees nicht so leicht, in die mittleren Jahre zu kommen. Man hängt ein Sabbatical ans andere und übers Sich-neu-Erfinden findet sich die Frage, »ob’s die eigentlich noch gibt«. Doch ein Comeback in den Vierzigern, das muss nicht unbedingt schief gehen und nach Self-Cover klingen. Nach neun Jahren offensichtlich entspannten Zeitvertreibs verschont uns die (vergleichsweise) Neue von den Yeah Yeah Yeahs mit Selbstfindungsberichten und Krisenbewältigung. Sie sind ins atmosphärische Alter gekommen und meiden die Botschaft. Sie verhalten sich ihrem Alter entsprechend und nehmen es erfreulich gelassen, »heutzutage anders« rüberzukommen: Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt.

Eric Satie: Pièces Froides
Reinbert de Leeuw: Satie Piano Works (1980)

Satie war nie so mein’s. Der heavy rotation seiner »Gymnopédies« und »Gnossiennes« folgte regelmäßig mein genervtes Augenrollen: stimmungsträchtige Jingles und esoterische Meditationssamples mit allzu breitem Anwendungsspektrum – hach sind wir heute wieder kontemplativ. Aber die »Kühlen Stücke« haben durchaus anziehendes Potential – weniger durch die magnetische Kraft Satiescher Schwebeklänge. Eher wirkt hier ein Vakuum des Gefühls. Das Impressionistische lebt vom strikten Verzicht aufs Expressive, von einer konsequent unpathetischen »Ausdrucksenthaltung«. Der Titel »Pièces Froides« macht durchaus guten Sinn. In klirrendem Frost hört man den Rauhreif knirschen. Wir werden ganz und gar unsentimental erfrischt.

Danzig: Mother
Album: Danzig (1988)

Muttertag vergessen? An der Tanke raus und die letzten welken Tulpen mit Ferrero Küsschen kaufen. Ob man den zerknirschten Blick auch glaubwürdig rüberbringt? Das hängt wohl stark von der Tagesform ab. Doch allzu geschmeidig und gebeugt, das nimmt sie uns ja eh nicht ab. Auf den letzten Kilometern also Fenster runter, Volume rauf und den Kopf in den Fahrtwind. Sich lieber ein bisschen den Rücken stärken lassen und sich mit diesem One-Hit-Wonder (die Danziger werden mich lynchen) noch was Gutes tun.

Kali Uchis: Moonlight
Album: Red Moon in Venus (2023)

Die neue post-feminist femininity und eine lustbetonte body positivity, die Anita Ekberg in die Fontana di Trevi folgen möchte, bekennt Farbe, zeigt ihr Gesicht und manches mehr. Von Kali Uchis klingt das alles ein bisschen gechillter, smoother und cooler als bei den programmatischeren Verfechterinnen. Lasziv, träge und mit genau dem Maß an Langeweile, das es braucht, um sich vorteilhaft mit sich selbst zu beschäftigen. Soll so sein und, wenn ich schon mal dabei bin, ein bisschen billig hat auch seinen Wert.

Yo La Tengo: Fallout
Album: This Stupid World (2023)

Ja, dass es die auch noch gibt?! Und offenbar 40 Jahre lang immer fleißig. Und dabei so was von entspannt und indie und alternative und dabei doch meistens vorneweg. Die All-Time-Boomer-Mucke nun auch für den Ruhestand. Aber ich will gar nicht ätzen. Nicht immer muss man »sich neu erfinden«, darf auch gerne mal nach vergangenen Jahrtausenden klingen, wenn’s denn kein lauer Aufguss des immer gleichen Teebeutelchens ist. Und das kann man ihnen eigentlich nicht vorwerfen. Dass all die linken Artigkeiten mittlerweile staatstragend und ungeheuer nervig geworden sind, sollte man zu subtrahieren wissen. Es war nun eben einfach mal eine Generation, die kopflosen Nachrüstungsbeschlüssen noch etwas reservierter gegenüber stand.

The Linda Lindas: Growing Up
Album: Growing Up (2022)

War Punk denn nun Spirit oder Stil, Lebensart oder Genre, Habitus oder Modelabel? Seit Malcolm McLarens gestylten Boygroups ein Streit, der nie entschieden, wohl aber im spaßgetriebenen Post-Post-Punk der 90er in breitentaugliches Wohlgefallen aufgelöst wurde. Bereits den Eltern der Linda Lindas dürften Hass und Selbstverstümmelung abhanden gekommen sein. Den Töchtern aus gutem Hause jedenfalls sind die sprichwörtlichen drei Akkorde in 170 bpm und knuffige Katzenvideos offensichtlich kein Widerspruch mehr. Mögen ergraute Dead-Kennedys-Grumpies die violettgesäumten Sid-Vicous-Narben und angebissenen Ohrmuscheln vermissen, man sollte die vier auch so mal machen lassen, denn altklug ist schließlich klug genug.

Luciano Pavarotti: Di rigori armato il seno
Richard Strauss: Der Rosenkavalier, 1. Akt

A propos Arien-Single-Charts, eine köstliche Persiflage der transalpinen Nummernoper mit ihren Belcanto-Hits und zugleich eine entlarvende Parodie der musikalischen Süßwarenverkostung ist der »Italienische Sänger«, der der Marschallin und ihrer Entourage zum Lever sein Appetithäppchen serviert. Maliziös ironisch, aber eben auch ein unwiderstehlicher Earcatcher. Bei den großen Aufführungen wird gern ein big shot eingeflogen (wie hier Pavarotti in Wien), der dann für zwei Minuten sein hochpreisiges Pralinée kredenzt, das Klischee des Stehtenors bedient und vorführt, was es heißt, als Kulturäffchen und Effekthascher ein gefälliges »Kabinettstückchen« abzuliefern. Genial doppelbödig: der vermeintliche Kenner möchte verächtlich das elitäre Näschen über die bildungsfernen Häppchenkonsumenten rümpfen und sperrt sich arrogant gegen den süßlich-südländischen Kitsch, kann sich dann aber doch dem Schmelz der Banalität nicht entziehen.

Charles Trenet: Que reste-t-il de nos amours?
Album: Definitive Collection (2018)

Der Cliché-Chanson schlechthin, und doch von zeitloser Gültigkeit. Herbststimmung an den Seine-Quais, den Mantelkragen hochgeschlagen, Gauloise im Mundwinkel. Der verwehenden Rauchfahne hinterher treiben wir in ein anderes Leben. Wir waren schon mal hier … im Frühjahr … Jahrzehnte zuvor. – Sepiafarbene Photographien, verblasste Liebesbriefe, Reliquienverehrung. – Seinerzeit hießen wir noch Antoine Doinel und hatten Christine Darbon den ersten Kuss abgeluchst. Im Vor- und Nachspann, gerne auch mal zwischendrin, hat Trenets Klassiker in Truffauts »Baisers Volés« (deutsch robust: »Geraubte Küsse«) eine würdige zweite Heimat gefunden und sieht sich daselbst im Titel geehrt:
»Bonheur fané, cheveux au vent,
Baisers volés, rêves mouvants.
Que reste-t-il de tout cela,
Dites-le-moi.
«

Lana Del Rey: A&W | Album: Did you know
that there’s a tunnel under Ocean Blvd (2023)

Der Mythos einer Stadt der Engel, der gefallenen zumal, lebt vom Chiaroscuro. Die grelle Strahlung mit den trügerisch funkelnden Reflexen der Traumfabrik kontrastiert mit der morbiden Düsternis der schwarzen Serie, dem Boulevard der Dämmerung, den schaurigen Perversionen des David-Lynch-Ambientes. Lana Del Reys neue Platte spielt im Souterrain des Molochs und hallt durch die Katakomben einer doch so offenherzig flachen Stadt. Image und Masche der Dark Lady konsolidieren sich allmählich zur Idee und die Schwarze Dahlie bekennt: »This is the experiеnce of bein‘ an american whore.«

Yaeji: Passed Me By
Album: With A Hammer (2023)

Dies scheint der Frühling ihres Missvergnügens, doch ist der Titular-Hammer, den Kathy Yaeji Lee durch ihr Debütalbum schleppt, eher subtiler Deutungshinweis als Werkzeug erfrischender Befreiungsschläge. Hier wütet nicht etwa ein Riot Grrrl der letzten Generation. Ein zartes Animepüppchen rollt in stillem Zorn mit ihren großen Augen. Wer es sich im Ambient-House bequem machen möchte, sollte den drohenden Unterton des infantil hochgepitchten Stimmchens nicht überhören: »Today has been a little weak, a little strong, I light a little fire, anything that touches me will evaporate and fly higher and higher.«

Riccardo Cocciante: Celeste Nostalgia
Album: Cocciante (1982)

Was suchen wir im Land, wo die Zitronen blüh’n? Die Süße im Sauren, das lustvolle Schwelgen in wohliger Wehmut. Was müssen wir hören, wenn wir bei offenem Verdeck die Autostrada del sole gen Süden cruisen? Eben diesen Song mit seiner äußerst erhellender Selbstreferenz. Denn was zeichnet die perfekte Italoschnulze aus? Genau, la celeste nostalgia!

Locas In Love: Saurus
Album: Saurus (2007)

Ach ja, die Saurier wer’n immer trauriger. Der idealistisch beseelte Revoluzzer ficht für die Sache, die es wert sei, sich für sie ins Feuer zu werfen. »Die Sache«, oh, welch hehrer Platzhalter für das »neue Leben« auf der anderen Seite. Doch gar so ironisch ist es nicht gemeint. Hier erklingt die ernste Trauer um das Aussterben einer ehrbar verlebten Gattung.

The Fuzztones: Strychnine
Album: Lysergic Emanations (1986)

»Was du auch machst, mach es nicht selbst … ausgenommen Selbstauslöschung«, heißt es bei Toco. Doch die meisten Songs über beliebte Exit-Strategien tönen in Moll und zerfließen in bittere Tränen. Erfrischend unlarmoyant checken wir aus with the taste of straight strychnine und an Stelle eines weinerlichen oh weh, verabschieden wir uns mit beherztem yeah.

Jacques Brel: Quand on n’a que l’amour
Album: Quand on n’a que l’amour (1957)

Der Existenzialismus lebt fort in der Fülle seiner Clichés, den unsäglichen schwarzen Rollkrägen und filterlosen Zigaretten, dem abgebrühten Blabla einer altklugen lost generation. Vor allem aber in der Schamlosigkeit gefühliger Selbstentblößung, die sich nur einer erlauben darf. Was ist man, wenn man nichts als die Liebe hat? Jacques Brel, wer sonst?

PJ Harvey: To Bring You My Love
Album: To Bring You My Love (1995)

Was für eine schöne Wasserleiche. Nachdem sie mit den beiden rauhen und sperrigen Vorgängeralben einen glaubwürdig erbitterten Metoo-Spirit avant la lettre in eine feindselige Männerwelt gepflanzt hatte, tauchte hier überraschend eine romantisch verklärte Ophelia wieder auf. Lyrische Klagelieder von exquisiter Décadence statt fauchender Hassgesänge, die einem den Sinn des Tiefschutzes nahelegten. Gingen letztere durch Mark und Bein, folgte dem Schrecken hier die Neigung zu ihrer wohl besten Platte.

Mirella Freni: Chi il bel sogno di Doretta?
Giacomo Puccini: La Rondine, erster Akt (1968)

An strahlenden Puccini-Tenören fehlte es nie, doch die idealtypische Puccinella assoluta wurde nie übertönt. Allüberall wurden Wärme und Fülle ihres reifen Honigtimbres gerühmt. Aber ob hier nicht ein Textbaustein recht behalten wollte. Reife? Nie in ihrem Leben! Die Freni war das ewige Mädchen, das, zwischen angefochtener Unschuld und naiver Leidenschaft balancierend, über’s Hochseil schwebte. Wer wissen möchte, was mit »À l’ombre des jeunes filles en fleurs« gemeint sein könnte, muss nur hinhören.

The Clash: Rock the Casbah
Album: Combat Rock (1982)

Aus heutiger Sicht mit gewisser Vorsicht zu genießen. Allzu naheliegend wäre mal wieder einer dieser völkerrechtswidrigen Drohnenangriffe gegen arabische Altstädte, auf die sich die Neue Welt so viel zu Gute hält. Doch politisch unkorrekt ist der Song natürlich schon, universalistisch sozusagen und von einem rotzigen Hegemonismus, den sich die Rockmusik schon lange nicht mehr leisten darf. Auf »Scheichs« schimpfen und ihre Musikscharia verspotten? Naja, tiefer als nach dem Öl im Wüstensand wurde hier sicher nicht geschürft, aber der sorglose Drive im clash of cultures hat einen unzeitgemäß robusten Charme.

Maxime Le Forestier: Fontenay Aux Roses
Album: Maxime Le Forestier (1972)

Hochproblematisch, nach gegenwärtigen Maßstäben, ist auch dieser Chanson. Ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in die Stirn gezogenem Schlapphut geiert Schulmädchen in Uniform hinterher, die, abends aus ihrem Internat (Fontenay-aux-Roses, dem »Rosenbrunnen«) kommend, in einen aussichtsreichen Feierabend ausschwärmen. Durchaus ein bisschen voyeuristisch lässt er seiner schwärmerischen Phantasie freien Lauf und macht den geneigten Hörer zum hingerissenen Komplizen. Wer könnte da wohl widerstehen? Ich nicht! C’est la première fois, que je suis amoureux, de tout un pensionnat…

Kiri Te Kanawa: Malven
Richard Strauss: TrV 297 Postum, Uraufführung 1985

Vierzig Jahre musste der Schwanengesang in einem Tresor versteckt auf seine Uraufführung warten, die dem Werk des Meisters eine bestürzende Wendung anhängte. Jagte die spätromantische Pracht des 19. Jahrhunderts den Vier (vor)letzten Liedern (s.u.) noch einmal die letzte Süße in den schweren Wein, »ragen im Garten [nun] Malven empor, duftlos und ohne des Purpurs Glut, wie ein verweintes, blasses Gesicht unter dem gold’nen himmlischen Licht.« Das Aushauchen in die letzten Züge einer abgewelkten Moderne hinein; schöner kann das Schöne nicht kapitulieren »und dann verwehen leise, leise im Wind, zärtliche Blüten, Sommersgesind …«

Léo Ferré: Avec le temps
Single 1971, Album CD: Amour Anarchie (1989)

Bereits zu meiner Zeit schon Schulpoesie und frankophone Hochkultur. Was ihn so liebenswert altmodisch macht? Die Bourgeosie wusste einst manch giftige Natter an ihrem Busen zu nähren. Doch verstanden die es, vergleichsweise unkorrumpierbar vor sich hin zu zischeln. Drohend, doch kaum bedrohlich, hat sich der struppige Salonanarchist par exellence zum kulturellen Kapital einer großbürgerlichen Lebensart gemacht, die man am präzisesten mit je ne sais quoi beschreiben kann. Wie die Filme von Sautet sind die Lieder von Ferré zu jenen choses de la vie geworden, von denen uns der Rhein und eine trostlos egalitäre Gesellschaft trennt.

© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Vox-Verstärker: Pixabay

Kommentare sind geschlossen.