Songs des Tages

Vox Verstärker - Song des Tages

Joni Mitchell: Both Sides Now
Album: Both Sides Now (2000)

Alle Jahre wieder bekommt der Song einen weiteren Schubs, wenn der unvermeidliche Weihnachtsfilm »Tatsächlich… Liebe« (Love, Actually) läuft. Eine seichte, aber doch ganz nette Episoden-Romcom mit ansprechendem Soundtrack. Emma Thompson outet sich ihrem Mann Alan Rickman gegenüber als lebenslanger Fan: »Joni Mitchell tought your cold english wife how to feel«. Der merkt sich das, denn in der Vorweihnachtszeit hört man lieber mal hin. Sie entdeckt allerdings eine Halskette, die, so glaubt sie, ihr zugedacht sei.

Am Weihnachtsabend kommt es dann freilich dicke. Sie öffnet ein Päckchen im gleichen Format und sieht (nur) … Joni Mitchells »Both Sides Now«. Alan Rickmans unbeholfene Erläuterung »…to continue your emotional education« treibt ihr das Wasser in die Augen, denn jetzt ist es raus: wer kriegt nun wohl die Kette? Es bleibt der empathische Beistand einer weisen, durch alle Wetter des Lebens gegangenen Frau mit einem Song, der seit Jahrzehnten geplagten Damen im schwierigen Alter bei der Lebens- und Liebesbewältigung zum Trost gereicht: Anderen geht’s auch nicht besser.

Midlifemadrigal, Klimakterialkantate oder, man soll ja nicht ätzen, die schwermütige Bilanzballade par excellence ist mit Erscheinen zur Jahrtausendwende schon über dreißig Jahre im seelsorgerischen Einsatz. Sie wurde erstmals auf JMs zweiten (Durchbruchs-) Album »Clouds« (1969) als eindringlich schlichter Graswurzel-Folksong veröffentlicht und zog mit 1675 belegten Coverversionen und zahlreichen Fassungen von JM selbst weite Kreise.

Die erste Version mag, von einem Twenty-Something-Hippie gesungen, etwas altklug rüberkommen und mutet mit dem klaren und hellen Sopran vielleicht auch etwas scharfkantig an. Erheblich tiefer und altersbedingt nachgedunkelt wirkt nicht nur die Stimme, der ganze Habitus in JMs 2000er Aufnahme scheint düsterer, belegter und damit deutlich glaubwürdiger für einen Abgesang auf jugendliche Frühlingsträume. Auch das beidseitige (auf dem Backcover zeigt sich JM von der Rückseite) Selbstporträt ist auf den Punkt. Es wirkt, wie in einen Hopper reingezoomt, fatalistisch und desillusioniert, dabei aber auch so tapfer lebensmüde, dass sich in das Mitgefühl ein gewisser Respekt mischt.

Opulent orchestriert beginnt ein konzertierter Frontalangriff auf die Tränendrüsen. – Joni Mitchel berichtet in einem Interview mit Elton John (ab 13:14 zu Both Sides Now), die unterkühlten britischen Philharmoniker hätten während der Aufnahme geweint. – Auf Wirkung bedacht werden die weichen Stellen beknetet und der Song treibt scheinbar unausweichlich auf kitschige Untiefen zu. Doch nach gut der Hälfte kommt bei 3:04 ein kluger Lotse an Bord. Wayne Shorter nimmt mit seinem Tenorsaxophon das Thema auf und das Steuer in die Hand. Auch wenn er noch einmal zurücktritt und den dramatisch anschwellenden Streichern vorübergehend das Feld überlässt, bleibt er präsent, wechselt zum Sopransaxophon und beginnt mit einigen wohlgesetzten Kurskorrekturen die Richtung des Songs zu drehen und damit dessen Gesamtcharakter komplett zu verändern.

Mit ein paar spitzen, geradezu schnippischen Marginalien setzt er der anflutenden Gefühligkeit einige ernüchternde Tautologien entgegen, die den Hörer wieder in die Spur bringen. – C’est la vie’S is wie’s isWas muss das mussWas hattet ihr erwartet? – Man ist geneigt, die façon wieder zu gewinnen, Haltung anzunehmen und sich wieder einzukriegen. Mit einem würdevollem Finale, nun wieder mit Tenorsax, erscheint das stark gesüßte Selbstmitleid derart gefasst und episodisch eingefriedet, dass man sich in versöhnlicher Distanz noch einmal zurückwenden möchte, nicht ohne sich in milder Ironie selbst zu beschmunzeln.

Ohne Wayne Shorters lebensweisen Kommentar erschiene das Lied als, zugegeben wirkungsvolles, sentimentales Rührstück. Mit seinen klugen Anmerkungen betrachten wir eine Anwandlung, die man sich gelegentlich leisten sollte und die durchaus auch einen großen Song wert ist.

Kim Gordon: I Don’t Miss My Mind
Album: The Collective (2024)

Wieviel Kim und wieviel Thurston steckte in Sonic Youth? Die Frage kann man sich anlässlich des neuen Soloalbums von Kim Gordon mal wieder stellen. Die irre verstimmten Moore-Gitarren fehlen, aber auch ohne das hektische Fast & Furious Geschredder klingt die Platte durchaus vollwertig und ungeschmälert nach dem hippen Vernissagerock von einst, ohne jedoch in nostalgisches Ü70 Revival oder grummeligen Alterstrotz zu verfallen.

»Noise-Rock« lautete die Fremd-, »No Wave« die Selbstzuschreibung der musikalischen Avantgarde der frühen 80er. Witzig, ironisch und durchaus treffend, denn gewissenhaft wahrten die autonomen Geräuschemacher dissonante Distanz nach allen Seiten. Auch wenn man die Platte nicht unbedingt abendfüllend hören muss, erinnert Kim Gordons Neue an diese erfrischende 360°-Gefälligkeitsverweigerung und ruft eine linke Intellektualität, ein »wokes Zeitgefühl« und eine freisinnige Unbotmässigkeit ins Gedächtnis, bevor derlei Befremdliches in der verkniffenen Kleinbürgermissgunst und dem streberhaften Moralismus neulinker Fleißsternchensammler versumpfte.

Urbane Coolness statt provinzieller Spießigkeit und piefiger Schrebergärtnermentalitität. Selbstredende Lakonie statt aufgesetzter Betroffenheitsgesten. Eine eigensinnig spröde Selbstständigkeit, die sich nicht den konformistischen Tautologien biederer Normgesinnung unterordnet. Links mit Stil und Esprit, doch, das geht immer noch, wenn man erstmal den 70sten hinter sich hat und es sich leisten kann, jenseits von Gut und Böse zu manövrieren.

Klaus Nomi & Nanette Scriba: The Cold Song
Henry Purcell: King Arthur, 3. Akt (1691)

Leben ist Leiden. Konsequent erscheint der Wunsch nach einem raschen Ende. Verzweifelter jedoch ist die Klage, überhaupt geboren worden zu sein. Ein uraltes Motiv von Homer bis Hiob, von Milton bis Mary Shelley, das im Vorwurf an den Schöpfer, gar in der Verfluchung dessen gipfelt, der einen in ein elendes Dasein gezwungen hat.

Bibbernd, schluchzend, wenn nicht gar in todessehnsüchtiger Schnappatmung, beklagt Purcells Cold Genius (der Frostgeist, ein einsames Wesen aus dem Eis) sein tiefgekühltes Dasein. Die Arie »What power art thou« ist eine Nummernarie aus der sogenannten Semi Opera »King Arthur, or The British Worthy«, die sich weitgehend selbstständig gemacht hat und neben einem weiteren Klagelied, Dido’s Lament (»When I am laid in earth«)*, aus »Dido and Aeneas« zu Purcells bekanntesten Vokalstücken gehört.

What power art thou, who from below
Hast made me rise unwillingly and slow
From beds of everlasting snow?
See’st thou not how stiff and wondrous old
Far unfit to bear the bitter cold,
I can scarcely move or draw my breath?
Let me, let me freeze again to death.

Die britische »Semi-Oper« ist, ähnlich wie das deutsche »Singspiel«, eine Mischform von gesprochenem und gesungem Text. Während das Singspiel einen Erzähler oder einzelne Sprechrollen enthält (etwa den Bassa Selim in Mozarts Entführung), liegt bei der semi opera das Schwergewicht auf dem Sprechtheater, das streckenweise durch einem »Soundtrack« untermalt und mit aufwändig gestalteten Tanz- und Gesangsnummern aufgelockert und angereichert wird. Der eher lockere Zusammenhang mit dem dramatischen Geschehen begünstigt das musikalische Exzerpt und gerade in diesem Fall die Auskopplung eines One-Hit-Wonders aus einem insgesamt doch recht sperrigem Abendfüller.

Aus dem Zusammenhang gerissen bleibt der Hörer freilich in eisiger Depression befangen, während die schaurige Daseinsklage eigentlich in eine rührende Frühlingsszene eingebunden ist, die einem weiteren Allmachtsbeweis der Liebe dienen soll. Cupido hatte nämlich den Eismann aus der Kälteschlaf geweckt, taut ihn schließlich vollends auf und läßt ihn erkennen: Omnia vincit amor, hurra, hurra, der Frühling ist da:

’Tis Love, ’tis Love, ’tis Love
that has warm’d us.
In spite of the weather
He brought us together.
’Tis Love, ’tis Love, ’tis Love
that has warm’d us.

Ein recht gute deutsche Übertragung scheint mir Nanette Scriba gelungen zu sein.

* Alle große Stimmen haben Didos Klage gesungen, weniger bekannt, aber hörenswert wie alles von ihm, ist die Fassung von Jeff Buckley.

Midori Takada: Mr. Henri Rousseau’s Dream &
Catastrophe Σ
Album: Through the Looking Glass (1983, Reissue 2017)

Kaum jemand hatte das 1983 in winziger Vinyl-Auflage erschienene Album je gehört, doch bildete sich rasch der Nimbus eines Indiana-Jones-Artefakts um das unbezahlbare Sammler-, Kult- und bald auch Spekulationsobjekt. Ich jobbte seinerzeit als kleiner Plattenverkäufer in einem großen Musikhaus und hatte Spektakuläres (1812 wegen der Artillerie, die Glassworks zur Transparenzevidenz und Arvo Pärt für basslastige Bedeutungsschwere) ins Highend-Studio unterm Dach zu liefern, um die audiophilen Kronjuwelen wirkungsvoll in Szene zu setzen.

Als kleine Entschädigung in Sachen Selbstachtung überredete ich die Penthouse-Verkäufer zur Anschaffung des Japan-Imports zu einem Preis, der an der Qualität der Platte keinen Zweifel lassen konnte. Zum Dank gab’s ein Tape und ungestörte Auditions nach Geschäftsschluss vom 80 kg schweren Marmor-Plattenteller, bevor das gute Stück schließlich als Giveaway zusammen mit einer Anlage zum Preis einer Eigentumswohnung an irgendeinen neureichen Lambofahrer ging.

Midori Takada 2017

Midori Takada (2017)

Erst kürzlich stieß ich auf eine hochtönende Rezension des bereits 2017 erschienenen Reissues, die das Historische nicht scheute. »The Japanese composer Midori Takada’s newly reissued album is an assimilation of musical modes from around the world. It belongs in the pantheon alongside Steve Reich’s most notable works. […] An astonishing feat in and of itself, Looking Glass is one of the most dazzling works of minimalism, be it from the East or West.«

Was einst der ungeheuer hippe Geheimtipp gewesen war, ist nun ein Kapitel der Musikgeschichte … und man selbst wurde ungefragt zum greisen »Zeitzeugen«? – Ob’s da nicht besser wäre, sich angesichts der 80er Jahre Hobbykeller-Videos vor Scham zu krümmen? Doch es hilft ja nix, die Platte gilt nicht nur als Meilenstein der Minimal Music, sondern auch als genrebildentes Werk des Ambient, unter dem man damals allenfalls psychedelisches Lavalampengewaber à la Tangerine Dream verstand.

Henri Rousseau: Der Traum (1910)

Henri Rousseau: Der Traum (1910)

Spur für Spur allein von Takada im Overdubbing-Verfahren aufgenommen, ist »Mr. Henri Rousseau’s Dream« eine recht traditionell anmutende, lautmalerisch »gegenständliche« Programmmusik zu Rousseaus symbolistischem »Der Traum«. Fulminant und mitreißend ist dagegen das »abstrakte« Hochenergiecrescendo Catastrophe Σ, das die Erwartung stimmungsvoller Beruhigungsmucke erfrischend brüskiert.

L’Impératrice: Anomalie bleue
Album: Tako Tsubo (2021)

Es heißt, es gebe tausend Wege des Misslingens, die alle zum gleichen deprimierenden Ergebnis führen. Was bleibt, ist dann der ernüchternde Blick aufs Substanzielle, die trostlose Offensichtlichkeit des Wesentlichen und vom reinen Nährwert wenden sich selbst Hund und Katze ab.

Tausend Dinge sind zu beachten, damit aus einem Hauch von Nichts Geschmack, aus reiner Luft eine feine Lust, aus einer Spur von diesem und einer Idee von jenem ein federleichtes Gedicht wird, das den lähmenden Zumutungen von Nachhaltigkeit und Weitsicht ein spöttisches Schnippchen schlägt.

Nein, nicht das fluffig aufgegangene Soufflé ist gemeint, sondern le Sound de L’Impératrice. »This is the Frenchest thing I’ve ever seen« ist in der Kommentarspalte der Kaiserlichen recht treffend zu lesen, die nun, wo sich Daft Punk in die Cloud gesichert haben, Esprit und Eleganz in ein Genre flößen, das offenbar auch 45 Jahre nach der Disco Demolition Night nicht totzukriegen ist.

Flore Benguigui

Flore Benguigui

Ein übermütiger Bass (David Gaugué), die jungshaft frischen Drums (Tom Daveau), eine von Nile Rodgers’ Signature-Riffs inspirierte Rhythmusgitarre (Achille Trocellier) und der auffallend traditionelle, aber auch sehr stylische Synthiesound (Hagni Gwon und Bandgründer Charles de Boisseguin) finden sich zu perfektionistisch ausgetüftelten Arrangements zusammen, die live nach Studio und auf dem Album frisch wie von der Bühne klingen.

Doch der Thrill kommt von Flore Benguiguis perlendem Gesang und einer prickelnden Stimme, die wirkt, wie aus einem beschlagenen Glas genippt. Diese helle, gehauchte rive gauche Frankophonie, erinnert ein bisschen an Françoise Hardy und beweist einmal mehr, dass sich unwiderstehlicher Chic nur ohne jeden Nachdruck einstellen kann.

Claudio Baglioni: Avrai
Album: Tutti qui – Collezione dal 1967 al 2005 (2005)

OK, man kann ihn schon hassen! Dieser unaustehliche Schönling, der mit den Jahren und Jahrzehnten immer besser aussieht. Unverschämt, provokativ, ein Killer-Frauentyp, klar ist der operiert, aber die Haare hat er schön.

Claudio Baglioni (2011)

Claudio Baglioni (2011)

Nur darf man dann halt auch nicht mehr nach Italien. Unentbehrlich ist er nicht, aber unvermeidlich. Es mag sich alles ein bisschen beruhigt haben, der Reggaeton wird selbst ihn ein wenig eingedämmt haben, aber in seinen (und meinen) Jahren wurde man spätestens ab Verona baglionisiert was das Zeug hielt. Absolut unmöglich, es ohne ihn bis ans Meer zu schaffen. Selbst bei abgeklemmtem Radio, ein Unding. Man musste ja auch mal tanken, allemal da erwischte er einen … alle Jahre wieder … dio mio, nicht der schon wieder.

Claudio Baglioni (1985)

Claudio Baglioni (1985)

Am Lido Paradiso oder im Bagno Fantasia musste sich jeder fügen, die schmachtenden Mädels ertragen, gute Mine zum bösen Spiel machen, bestenfalls die Gunst der geneigten Stimmung nutzen. Claudios Parasiten fanden sich rein … »joah, hat schon was«. An der Jukebox brauchte man nur die schmuddeligsten Tasten zu klicken und man hatte seine Sommerhits in voller Dröhnung, in der Nachsaison dann schon knackend und reichlich Lo-Fi. Wieder daheim, brauchte es ein Weilchen, um sich zu rehabilitieren, seinen amtlichen Geschmack wiederherzustellen und Schwesterchen die Platten zurückzugeben.

Ja, Panik: Ushuaia
Album: Don’t Play With The Rich Kids (2024)

»Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder«, Degenhardt zu Ehren eine würdige Retourkutsche, aber ob die notorischen Arthouse-Residenten mit dem Albumtitel eine robuste street credibility reklamieren können, ließe sich in Frage stellen. Klar, der Klassenkampf ist allemal ein hehres Unterfangen, aber vielleicht verläuft die Frontlinie doch eher zwischen The Taste And The Money? – Macht ja auch Sinn!

Der beschwörende Klang magischer Ortsnamen (man höre Antananarivo auf dem Libertatia-Album) scheint für Andreas Spechtl nicht nur ein poetisches Faszinosum darzustellen, dem Lockruf ins Weite kann er offenbar auch tatsächlich nicht widerstehen. Zwei seiner drei Soloalben brachte er aus Teheran und Mexico City mit zurück. Mittlerweile lebt er im argentinischen Córdoba, das Fernweh nimmt man aber wohl auch mit in die Ferne.

Weiter, viel weiter noch zieht es ihn »an die Kante der Welt«. Nach Ushuaia soll’s gehen, in die südlichste Stadt der Erde, Feuerland in Sichtweite, »hier steht die Welt in Flammen« in einer »Welt aus kaltem Licht und Eis«. Das allein klingt schon sehr verführerisch nach Joseph Conrad und Jack London, doch dann setzt dieses schwelgerische, reiselustig cruisende, Maggot-Brain-stylische Gitarrensolo ein. Das gibt nun wirklich Miles & Moreund schau: Der Schimmer ferner antarktischer Gestade …

Samara Joy: Guess Who I Saw Today
Album: Linger Awhile (2022)

Bei den diesjährigen Grammys gab es »nur« eine Auszeichnung für die Best Jazz Performance in ihrem spektakulär vorgetragenen Song Tight. Ein netter Reminder an ihren Triumph im letzten Jahr. Das Best Jazz Vocal Album war angesichts des Nischenbiotops nicht die eigentliche Überraschung – in kleinen Teichen sind große Fische leicht zu fangen. Aber Best New Artist (2023) für eine Sängerin der hohen alten Schule, ohne jede Konzession an den Zeitgeist, ohne das geringste Gen-Z-Aggiornamento, das war schon die Sensation und auch eine gewisse Ehrenrettung für ein Milieu, das ohne jedes Schamgefühl vom eigenen Geläuf als »the industry« spricht.

Der Vergleich mit den ganz großen Namen wäre gewiss nicht zuviel der Ehre, aber als »zweite Sarah Vaughan« würde man sie zur epigonenhaften Meisterschülerin mit Vintage-Appeal machen. Doch alles an ihr klingt sui generis. Distinguierte Eleganz, gediegen, reif und gesettelt, als hätte sie zwanzig Jahre mehr im Rücken und dabei von einer unbekümmerten Sicherheit, die nur ausstrahlt, wer scheinbar unbegrenzte Reserven als selbstverständlich nehmen darf. Unglaublich fein und edel mutet ihr Chiaroscuro an. Ohne hörbare Registerwechsel schmilzt der Ton vom Hellen ins Dunkle, um dann wieder völlig ansatzlos in strahlendes Leuchten aufzugehen.

Die Pointe des Songs mag vorhersehbar sein, doch weiß sie den Hinterhalt der Fangfrage glaubwürdig zu verschleiern. Nur in feinsten Nuancen mischen sich in die gespielte Beiläufigkeit Momente eindringlichen Insistierens. Man ahnt gereizte Einwürfe im Ebenmaß vorgetäuschter Unbefangenheit. Doch bis zum Finale hält sie die Spannung hoch, um dann in einer Folge bitterer Ornamente die Katze aus dem Sack zu lassen. – Brillant und raffiniert und einfach 🙏.

Meshell Ndegeocello: Call The Tune
Album: The Omnichord Real Book (2023)

Ein Grammy für Meshell Ndegeocellos Platte als Best Alternative Jazz Album (2024) lässt Anstrengendes befürchten. Nicht nur Jazz, sondern auch noch Alternative? Au weia, ein Ohrenschmerzer, experimentell, avantgardistisch, hardcore Kunsthochschule, kompromisslos gegen die Gefälligkeit. Ein »Soundbite« also, im engeren Sinn des Wortes? – Keine Sorge, das »Alternative« ist hier unbedingt als mildernder Umstand musikalischer Freizügigkeit zu verstehen. Im Genreschrebergarten hatte sich MN noch nie gescheut, ihre ausladenden Zweige üppig in alle benachbarten Parzellen wachsen zu lassen. Angesichts ihrer überbordenden Phantasie müsste selbst »Crossover« als engherziges Platzwartkonzept gelten.

Die Beteuerung »Everything is under control« (die einzige Zeile meines Lieblingssongs) hat meist einen naheligenden Verdacht im Schlepptau. Der Burnout wird bereits vorgewärmt. Eine Lebenslüge unmittelbar vor dem Offenbarungseid? Die Montessorimutti auf dem antiautoritären Kindergeburtstag. Aber hier kann man’s ruhig glauben. Ein freiheitliches Einvernehmen ohne ordnendes Regime und eisernen Formwillen, doch, das kann gelingen. Aber »nur« ein glückliches Zusammentreffen ist es nicht. Wie der gute Gastgeber die richtigen Leute nebeneinander setzt und sich selbst unsichtbar macht, waltet auch hier eine leichte und sichere Hand. Alles findet und fügt sich, doch niemand will’s gewesen sein.

Endeavour-Theme (Der junge Inspektor Morse)
Britische TV-Serie 2012–2023 (Folgen auf ZDFneo)

Über der letzten Einstellung jeder Folge setzt ein rhythmisch schwankendes Streicherstaccato ein, es wiederholt sich, und wieder. Die Schlusscredits auf schwarzem Hintergrund werden eingeblendet. Das Thema kommt hinzu, wird zunächst von einer Laute gezeichnet, reichert sich an, gewinnt Gewicht und verabschiedet sich in symphonischer Fülle. Das Schlussthema des australischen Komponisten Barrington Pheloung hat in Großbritannien einen flächendeckenden Wiedererkennungswert. Wie das Original »Inspector Morse« (1987–2000), hat auch die Prequelserie »Endeavour« Kultstatus und knüpft an den einprägsamen ursprünglichen Soundtrack an. Das einleitende Streicherostinato legt den roten Faden durch den ganzen Abspann und ergibt sich aus dem Morsecode für M.O.R.S.E. (eine Spielerei, von der es heißt, dass damit auch mancher Tätername gespoilert wurde).

Ein wenig täuscht jedoch die mild versöhnliche Melancholie des musikalischen Abbinders über die beklemmende Grundstimmung der Serie selbst hinweg. »Endeavour« führt ins Oxford der 60er Jahre und Morses frühe Zeit als Detective Constable. Aus prekären Verhältnissen stammend, erhielt der hochbegabte Endeavour ein Oxford-Stipendium, brach das Studium jedoch kurz vor dem Examen ab, ging als Funker und Decoder zum Militär (deshalb vielleicht der Morsecode?) und landet schließlich auf niederster Stufe bei der Polizei, wo er scharfsinnig und querköpfig, doch stets unterbewertet und kleingehalten, seine Fälle löst, die ihn in alle Milieus und Nischen der englischen Klassengesellschaft führen.

Soweit so gut, irgendwie kennt man die angeschlagenen Helden, vielleicht nicht so exquisit in Kinoqualität fotografiert und nicht mit einem derart akribisch und liebevoll ausgestatteten Lokal- und Temporalkorit, dass man glaubt die Braukohleheizungen riechen zu können und am eigenen Leibe in diesen Kunststoffmischungen zu schwitzen. Aber die soliden und bisweilen durchaus cleveren Krimiplots sind es nicht, die Endeavour zu einer derart gefeierten Liebhaberserie gemacht haben.

Es ist das stille Leid des ebenso sympathischen wie bedrückten Protagonisten, der sich mit einem beträchtlichen Identifikationspotential durch seinen vielfältigen, doch stets bitter fremden Wirkungskreis schleppt. Die gotische Pracht der Colleges, die Professoren-Cottages in grüner Umlandidylle, oder die stickigen Pubs, das drückend miefige Polizeiquartier, die mahagonigetäfelte Altphilogie und die sakrale Erhabenheit der Bodleian, sie alle halten Morse auf Abstand, weisen ihn ab, zeigen ihm die kalte Schulter. Von den Frauen ganz zu schweigen.

In seiner trostlosen Klause, Morse wohnt »möbliert«, wie das damals hieß, bekämpft er das nagende Ungenügen mit Alkohol und Opern von einem tragbaren Plattenspieler. Kommt es richtig schlimm, müssen Brandy und Puccini hochdosiert werden. Man leidet mit Morse. Die Tristesse ist schwer zu ertragen. Es braucht zum Schluss eine gewisse musikalische Beschönigung, die aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es in der nächsten Folge wieder heißen wird: Auf dem Gipfel der Verzweiflung ist immer noch was los.

Jeanine De Bique: Tra le procelle assorto
Carl Heinrich Graun: Cleopatra e Cesare (1. Akt)
Album: Mirrors (2021)

»Eine der herzflutendsten Sopranstimmen der Gegenwart« hatte Christine Lemke-Matwey sie in der ZEIT genannt und nie würde ich einem freundlich gesinnten Superlativ JDB betreffend widersprechen, doch war es nicht die lyrische Empfindsamkeit, das gewinnende Gefühl, was mir zuerst ins Ohr sprang. Eher hatte ich den Eindruck, als müsse sie einen enormen Überdruck abbauen. Eine Koloratur, die klingt wie das Abatmen überschüssiger Kräfte, dabei präzise und exakt, wie in Stahl gestochen.

JDBs Debütalbum Mirrors stellt berühmte Heldinnen der Barockoper (Kleopatra, Agrippina, Rodelinda, Deidamia, Alcina) vor, indem eine prominente Referenzarie des Übervaters Händel mit »Parallelstellen« weniger bekannter zeitgenössischer Komponisten »gespiegelt« wird.

Carl Heinrich Graun war der außerordentlich produktive Hofkompositeur des Alten Fritz, Leitfigur der Berliner Oper und ganz nebenbei Nabokovs Ururgroßvater. Seine Sturm-Arie der Kleopatra »Zwischen den Stürmen gefangen« erlaubt es JDB so heftig zu dekomprimieren, dass es einen aus dem Sessel weht.

Ein bisschen verwunderlich, dass Händels ebenso stürmische »Spiegel-Arie« Da tempeste il legno infranto (»Von Stürmen zerbrochen das Schiff«) aus dem 3. Akt seines Giulio Cesare in Egitto auf dem Album fehlt. Die Live-Aufnahme mit dem Houston Grand Opera Orchestra unter Patrick Summers tut’s auch, denn eine Killer-Arie ist es ohnehin. (Wieder beachte man das Gänsehaut-Rrrrrr!)

Jeanine De Bique: Und ob die Wolke sie verhülle
Carl Maria von Weber: Der Freischütz, 3. Akt

Der Freischütz gilt als Paradebeispiel für den Zusammenklang der Romantik mit einem restaurativen Katholizismus. Unter höchst dramatischen Umständen fällt die unmittelbar bevorstehende Heirat der frommen Heldin Agathe ins Wasser. Ihr Bräutigam Max wird verbannt und muss ins Exil. Und doch ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kein Happy End auf der Bühne des Lebens. – Soweit das Romantische. Doch ein Silberstreif zeigt sich am Horizont des Glaubens. – Soweit das Katholische. Der berühmte Schlusschor bekräftigt die Hoffnung, dass sich nach dem Vorhang alles doch noch fügen könne: Ja, lasst uns die Blicke erheben, und fest auf die Lenkung des Ewigen baun.

Doch belässt Weber das Programmatische nicht in der Fläche des Plots. Eine herzergreifende Kavatine im 3. Akt sammelt sich in ideeller Verdichtung und bildet den Kipppunkt im Handlungsverlauf in einer Art von »katholischem Meme« ab.

In der »Brautarie« bereitet sich Agathe unter düsteren Vorahnungen auf ihre Hochzeit vor. Zwischen Hoffen und Bangen beschwört sie eine Art von romantisiertem Thomismus herauf:

Und ob die Wolke sie verhülle,
Die Sonne bleibt am Himmelszelt;
Es waltet dort ein heil’ger Wille,
Nicht blindem Zufall dient die Welt!
Das Auge, ewig rein und klar,
Nimmt aller Wesen liebend wahr!

Die Aufklärung als Bewölkung und das rückwärts gelesene »ubi amor, ibi oculus«, das hat nicht nur den gutherzigen Charme des Naiven, es schlägt stabile Pflöcke ein und bereitet den Bau reaktionärer Wagenburgen vor. – Sowas mag ich hören.

The Killers: Mr. Brightside
Album: Hot Fuss (2004)

Ja, der Song hat seinen Zug und Eric Roberts tut im Video, was er am besten kann: ungeheuer schmierig rüberkommen. Aber eigentlich sind die Killers ein Vorwand, den Channel von Rick Beato zu empfehlen, von dem ich mir immer gerne was »vorhören« lasse. Obwohl ich Mr. Brightside nun nicht gerade für »great« halte, gewinnt der Song allein dadurch, dass man sich von Beatos beeindruckendem strukturellen Gehör die Layer auseinandersetzen lässt, die im Laminat der fertigen Produktion allzu leicht flachgebügelt erklingen.

Wer Daddys Ohr schätzt, mag sich vielleicht mal vom Sohnemann vorführen lassen, was high resolution bedeuten kann. Das absolute Gehör ist angeboren und vermutlich erblich, aber auch im formalen Überblick scheint der Apfel nicht weit vom Stamm zu fallen.

Diana Ross & The Supremes And The Temptations:
I’m Gonna Make You Love Me
Album: Diana Ross & The Supremes
Join The Temptations (1968)

Wenn ich mal wieder in diese Stimmung komme wird man hier noch öfter von ihr hören. Um die Glaubwürdigkeit zukünftiger Lobeshymnen zu untermauern, hier ein vorsorglich kritischer Seitenhieb auf Motowns Primadonna Assoluta.

Viel wurde geschrieben über Berry Gordys durchgreifende Inszenierung seiner Diva. Frisuren und Outfits (von historischer peculiarity), Attitüden und Akzent, aber auch die rücksichtslose Deckelung der beiden »flankierenden« Supremes. Vor allem Florence Ballards sehr viel tragenderes Organ wurde gedämpft (wohl auch, weil es für die Mainstream-Zielgruppe zu schwarz und soulig klang), um Diana Ross’ perlende Champagnerstimme nicht zu planieren.

Eigentlich als erste schwarze Supergroup (s. u. im boygenius-Teaser) gedacht, schickte Motown hier jedoch seine beiden Flaggschiffe gegeneinander ins Treffen und Eddie Kendricks nicht zu bremsendes Falsett sang eine hilflos forcierende DR in einem bemerkenswerten Overkill in Grund und Boden. Mit einer Billboard Nr. 2 und knapp einer Million verkaufter Platten innerhalb der ersten zwei Wochen allerdings ein vertretbarer Fail für »Miss Ross« und ein verdienter Sieg für die Temptations.

Laufey: Just Like Chet
Album: Everything I Know About Love (2022)

Ich steh’ auf Laufey! OK, das ist barely legal, schon klar, aber jetzt ist es raus. Dieser Mädchenpensionatslook, die wehenden Sommerkleidchen, Tinkerbell und Cinderella, Elfenliebreiz im Feenstaubgestöber … und der dirty ol’ man hinter der Hecke. Aber da es doch nur um die Musik geht, hier eine vergleichsweise unverdächtige und gleichwohl ganz entzückende Hommage an einen der Großen »meiner Generation« 😏 und seinen vielleicht romantischsten Song.

Laufey Lín Jónsdóttir (2021)

Laufey Lín Jónsdóttir (2021)

Ein klein bisschen makaber, dass sie sich auf dem Sims eines (vergitterten) Fensters filmen lässt. Man sollte dem Meister wohl nicht alles nachmachen … aber die Zeilen in der letzen Strophe, na ich weiß ja nicht:

I go ahead and just like thatI fall a little hard and fast.

Renato Zero: I migliori anni della nostra vita
Album: Sulle tracce dell’imperfetto (1995)

Irgendwann verblasst der Sinn der Frage, was man denn werden wolle, wenn man einmal groß sein würde. Und doch müssen wir uns alle Jahre wieder mit den leidigen guten Vorsätzen zukunftsträchtig geben. Ihr unausweichliches Scheitern kann uns kaum belehren, endlich einmal die Blickrichtung zu wechseln und die düstere Aussicht nach vorne, gegen die Rückschau ins Verklärte, ins tröstliche Reich längst vergangener Konjunktive zu tauschen.

Die Perfektion findet sich »auf den Spuren des Imperfekts«, in der rückwirkenden Erfindung des Geglückten und Gelungenen, wie man an »den sogenannten besten Jahren unseres Lebens« erkennen kann. Also sprach der Jüngling mit lockigem Haar: et in arcadia ego.

Nada Surf: Jules and Jim
Album: The Stars Are Indifferent to Astronomy (2012)

Sich der Urteile zu enthalten und Dinge wie Menschen sein zu lassen, was und wie sie sind, stellte die beiden Grundgesetze der Nouvelle Vague dar. Truffauts Jules et Jim von 1962 verstößt gegen das erste, erfüllt das zweite Gebot jedoch umso mehr. Man kann sicher mal versuchen, sich dieser ebenso anziehenden wie beunruhigenden Dreiecksgeschichte cineastisch neutral gegenüber zu stellen.

Doch unweigerlich wird der distanzierte Zaungast in eine verhängnisvolle Ménage à trois hineingezogen, wird zum erregten Teilnehmer einer beklemmenden Konstellation, vor allem aber zum Parteigänger und Sekundanten aller drei Protagonisten zugleich.

Der Song von Nada Surf ist nicht nur eine sehr sympathische Hommage an einen bewegenden Meilenstein der Filmgeschichte, er trifft dessen besonderen Reiz, vor allem aber dessen »rezeptionsästhetische« Pointe recht genau. – Befangen und parteilich eingenommen springt der ergriffene Zuschauer im Dreieck und wird (nur) so Jules, Jim und Catherine zugleich gerecht.

Never felt such a pull before
I’m hypnotized, I’m destabilized
I am Jules and Jim, I’m me and him
I am all three, I am Catherine …

Shane MacGowan ( 30. November 2023)
The Pogues ft. Kirsty MacColl: Fairytale Of New York
Album: If I Should Fall from Grace with God (1988)

Dass Irland die besten seiner Dichter und Sänger an den Alkohol verliere, ist ein pietistisches Vorurteil, das die Verhältnisse verständnislos auf den Kopf stellt.

»Nulla placere diu nec uiuere carmina possunt
quae scribuntur aquae potoribus.
«
(Horaz: Epistula I, 19)

»Gedichte/Lieder von Wassertrinkern können
weder dauerhaft
gefallen noch überleben.«
(Horaz: Brief an Maecenas)

Shane MacGowan auf dem Analog Festival, Dublin 2008

Shane MacGowan, Analog Festival, Dublin 2008

Ein Leben in der Nachfrist, seit Jahrzehnten auf dem Sprung und Gegenstand der Frage, ob es ihn denn überhaupt noch gäbe. Überraschung und Bestürzung wären geheuchelt, eher ändern Wertschätzung, Bewunderung und Verehrung geringfügig ihre Richtung. Sie zeigen jetzt etwas mehr nach oben.

Der Beginn der Adventszeit enthebt von der Qual der Wahl, sich unter all den wunderbaren Songs entscheiden zu müssen. Fairytale Of New York ist nicht nur eines der wenigen vertretbaren Weihnachtlieder (der Popmusik). Die beiden wohl besten Pogues-Alben geben darüber hinaus einen ganz trefflichen Adventskalender ab, der mit seinen 25 Türchen (in den Originalversionen) genau bis zum ersten Weihnachts- und Shane MacGowans 66. Geburtstag reicht.

Rum Sodomy & the Lash (1985, 12 Tracks)
If I Should Fall from Grace with God (1988, 13 Tracks).

Boygenius: Not Strong Enough
Album: The Record (2023)

Eine »Supergroup« kann zwar auch mal eine Stadionband mit aberwitzigem Stromverbrauch sein, bezeichnet aber einfach nur den (zeitweiligen) Zusammenschluß von Solokünstlern oder Mitgliedern anderer Bands – Cream und Crosby, Stills, Nash & Young also, oder Queens of the Stone Age und The Raconteurs. Die Auswahl transportiert natürlich sowohl Vorurteil als auch Erwartungshaltung. Testosterondampfende Alphatiere oder superambitionierte Individualisten, die schlagkräftige und hochspezialisierte Eliteeinheiten bilden.

Phoebe Bridgers im Crocodile in Seattle

Phoebe Bridgers im Crocodile in Seattle

Als ich nun erfuhr, dass »Die Supergroup« des Jahres, boygenius, aus Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus besteht, war ich gelinde gesagt verwundert. Ich kannte nur Phoebe Bridgers – ihrem mädchenhaft-zarten Charme steht man ja unweigerlich aufgeschlossen gegenüber – aber auch von den beiden anderen bildet man sich rasch ein wohlwollendes Urteil. Doch wurde ihr Joint Venture The Record in derart hohen Tönen besungen, dass ich beim ersten Hören dachte, »na ja, vielleicht auch nur über den grünen Klee gelobt?« – Eine introvertierte Girlband eben, aber mit musischem Hochschulabschluss und Sinn für dieses und jenes.

Allerdings musste ich auch sogleich an Toco und ihre Sache mit der Team Dresch Platte denken. Es scheint nämlich, jedenfalls in meiner Generation, nach wie vor rudimentäre Restbestände einer Art von Geschlechterdifferenz zu geben und auf die wird man hier gestoßen, wie der Hund in sein Geschäft. Die boygenius-Art »in sich hineinzuhören« unterscheidet sich doch ganz erheblich von der der Smiths, James Blakes und anderer Seelenschürfer, denen man ja auch nicht gerade ein taubes Gemüt attestieren möchte. Graben letztere tiefe, dunkle Stollen ins Gestein, scheint ersteren das Bedeutsame in der Luft zu liegen.

Das wiederum erschließt sich mir freilich nur ansatzweise, doch helfen die teils ausgezeichneten, teils aber auch herzallerliebsten Videos ungemein. – Zumindest erhellen sie den Reiz des ewigen Rätsels.

Und ich weiß sie singen nicht für mich,
Ich weiß, und trotzdem glaube ich,
Dass ich sie verstehen kann (na ja?),
Obwohl ich bin ein Mann
Und trotzdem finde ich sie super.

Gladys Knight & The Pips: Midnight Train To Georgia
Album: Imagination (1973)

Allein das Intro ist bereits großartig. Nur sechs prosaische Snare Beats und drei zackige Bläsersynkopen, verbunden durch ein paar beiläufig anmutende Pianoarpeggi, bauen das gesamte Gefälle auf, über das während des ganzen Songs eine druckvoll tragende Basslinie abfließt. Lediglich eine ätherische Orgel, später ein paar federleichte Streicher umspielen das Fundament, gegliedert durch einige zurückhaltende Bläsereinsätze und ein paar diskrete Klavierakkorde.

Einem Perpetuum mobile gleich, scheint der Song keines äußeren Anschubs zu bedürfen, schöpft er doch alle Kraft für sein reibungsfreies Spiel allein aus sich selbst. Seine ganze Fülle und Dichte verdankt sich dem Wechselpart einer der machtvollsten Soulstimmen und dem kraftvoll emanzipierten Chorgesang der Pips, der mit den eher instrumental eingesetzten Backing Vocals konventioneller Soloarrangements nichts zu tun hat. Und so rollt ein ungeheures Schwergewicht mit einer solch smoothen und gelösten Leichtgängigkeit an uns vorbei, dass einem das Herz aufgeht. – Ein unübertroffenes Meisterwerk und mein Tune für den diePOD.

Jethro Tull: Black Satin Dancer
Album: Minstrel in the Gallery (1975)

»Gymnasiastenmusik von einer Abiturientenband« sagte ein Freund einmal, um sich als bekennender Who-Mod auf das Gründlichste zu distanzieren. Eine ebenso gemeine wie treffende Charakterisierung. Der Bänkelsänger-Look & Feel von Ian Anderson, die historisierenden Remiszenzen an John Gays The Beggar’s Opera, John Dowland und dann auch noch diese äußerst zweifelhafte Bach-Bearbeitung.

Die reichlich dick aufgetragene elisabethanische Patina macht Minstrel in the Gallery, mein Favourite von einst, zum vielleicht geschmäcklerischsten Album in diesem Sinne. – Video quaestionem, tamen non revoco, wie der Primaner zu sagen pflegt.

100 gecs: Hollywood Baby
Album: 10,000 gecs (2023)

Das Duo scheint stark unter dem Eindruck der Inflation zu stehen. Hieß ihr Debütalbum von 2019 noch 1000 gecs, musste der Titel der aktuellen Platte neu berechnet werden. Der Wertverfall des gec bereitet uns allen Sorgen.

Als extremely online wurden die beiden bezeichnet. Keineswegs nur pandemiebedingt wurden offenbar die zahllosen Zwischenstände, VSTs und Samples zwischen den Logic Pro Clients getauscht und on the fly bearbeitet. Authentizität durch gegenseitige Enteignung, der Autor als Schnittstelle, so was in der Richtung. Auf jeden Fall ungeheuer zeitgemäß. Der Erfolg ist unüberhörbar. Nichts, aber auch gar nichts klingt aus einem Guss, dem Netz sei’s gedankt. Wer sich für ein paar Sekunden an Blink-182, Offspring oder Rage Against the Machine erinnert fühlt, zieht sogleich wieder zurück: »nee, dann doch nicht«.

Doch unter dem Vorsatz maximaler Desorganisation ruckeln sich einige außerordentlich vergnügliche Songs zusammen. – Noch nie gehört? – Das wohl kaum! – Aber so? – »Nee, dann doch nicht«.

Miriam Makeba: Pata Pata
Album: Pata Pata (1968 u.v.a. Aufnahmen)

Gold, Diamanten, Mama Africa. Einen besonderen Reiz in dieser Werteskala haben die linguistische Fälschungssicherung und der phonetische Kopierschutz. Die zahlreichen Varianten der Klick- und Schnalzlaute sind wohl für Nicht-Xhosa-Muttersprachler so gut wie nicht erlernbar. Ich will das gerne glauben. Wie nahtlos perkussiv die sich dem Gesang einfügen wird noch deutlicher im Click Song.

Marvin Gaye & Tammi Terrell:
Ain’t No Mountain High Enough
Album: United (1967)

Der vielleicht beste R&B-Song aller Zeiten, ja klar, aber wohl auch einer der größten Popsongs überhaupt. Man findet ihn immer zu kurz und muss ihn dreimal spielen. Das ist schon mal ein Zeichen. Aber der unwiderstehliche Charme liegt wohl in der perfekten Balance, nein, in der herzergreifenden Harmonie zwischen den beiden. Es ist keine gönnerhaft-galante Zurückhaltung des ansonsten so wuchtigen und präsenten Prince of Motown, die Tammi Tarrell so entzückend ins Spiel kommen lässt.

Im Gegensatz zu manch marktwirtschaftlicher Zwangsverheiratung nach Berry Gordys Ratschluss, gaben beide ein ebenso glaubwürdiges, wie einnehmendes Traumpaar ab. Vielleicht, weil sie nie liiert, wohl aber aufs Engste befreundet waren? Ihre drei gemeinsamen Platten zwischen 1967 und 1969 (Tarrell starb 1970 mit gerade mal 24) sind durchgängig von so neckisch-verspielter Leichtigkeit und einer derart liebenswerten Zugewandtheit, dass sie für forcierten Schmalz und kalkulierte Gefühligkeit keinerlei Verwendung hatten. – Drüber der Himmel und nix sonst.

The 5.6.7.8’s: I’m Blue
Album: Teenage Mojo Workout (2002)

Eine Entdeckung von Tarantino (einem wirklichen Musikkenner vor dem Herrn), denn was wäre Kill Bill I ohne das Hattori-Hanzo-Katana, Lucy Liu und diese weirdo Surf-Band (sie spielen zum Schlachtfest in O-Ren Ishiis Hauptquartier Haus der Blauen Blätter). Man kann sich dem Drive doch nur schwer entziehen und dem passiv-aggressiv Veranlagten gewähren die drei Furien erlösende Freisetzung vitaler Energien. Darf man noch »Banzai« brüllen, oder ist das historisch belastet?

In besserer Tonqualität und mit noch mehr Biss, der Song von der LP.

Sparks: Nothing Is As Good As They Say It Is
Album: The Girl Is Crying In Her Latte (2023)

Coole Nerds? Eine contradictio in adiecto! Gäbe es da nicht die Sparks, die seit über 50 Jahren die selbigen sprühen lassen. »Sparks got the musical extravagance of Wizzard, the sophisticated feel of Roxy and the menacing power of the Third Reich«, schrieb die britische Sounds (wobei Ron Pokerface Mael sein Markenbärtchen voll korrekt auf Chaplin bezogen wissen will), doch würden wohl selbst die näherliegenden Vergleiche mit Yello und Monty Python hinken. Geistreich abgedrehte Aphorismen, elegante Showtunes und smarter Dadaismus, intellektueller Nonsense, der freilich durch die Hintertür immer die intelligente Wendung hingebogen bekommt, das alles sucht seinesgleichen.

Sparks: Ron und Russell Mael (1974)

Ron und Russell Mael (1974)

Bereits Mitte der 90er hätte die Frage durchaus Sinn gemacht, wann es denn an der Zeit wäre, den Altersrückblick zu wagen (When Do I Get to Sing »My Way«), doch scheint der nach wie vor auszustehen. Im Frühjahr diesen Jahres kam ihr 26. Studioalbum heraus und mit gerade mal 75, bzw. 78 Jahren hat die genialische Verschrobenheit der Mael-Brüder nichts von ihrer Schräglage verloren. Wie jung die beiden allerdings tatsächlich geblieben sind, zeigt diese durchaus nachvollziehbare Quengelei.

Regula Mühlemann: Ruhe sanft, mein holdes Leben
Zaide, 1. Akt, K344. Album: Mozart Arias II (2020)

Irgendwie blieb Zaide in der Pipeline stecken. Dafür ploppte zwei Jahre später die Entführung aus dem Serail heraus. Mit auffallenden Parallelen. Zaide und Konstanze sind Gefangene eines grimmen Muselmanen, der nicht auf seine 72 Jungfrauen warten mag, denn die Gute liegt so nah. Doch beide sind anderweitig interessiert.

Regula Mühlemann

Rrrrrregula Mühlemann *

Während Konstanzes Belmonte jedoch einen waghalsigen Befreiungsplan von außerhalb startet, teilt Zaides Liebster deren trauriges Schicksal als christlicher Sklave am Hof des Sultans und erwidert noch nicht einmal ihre Gefühle. Das will Zaide ändern, indem sie dem schlafenden Gomatz ihr Portrait in den Schoß legt.

Doch sind nachgehübschte Tinder-Selfies völlig wirkungslos, wenn sie nicht von einer zauberhaften Arie wie dieser untermalt werden. Gomatz ist hin und weg, wie ich und jeder andere empfindungsfähige Hörer, und das frisch gebackene Liebespaar schmiedet einen Fluchtplan. Ob der gelingen wird, weiß man nicht, denn Zaide blieb Fragment. Was man aber weiß: »Ruhe sanft, mein holdes Leben« ist eine solch wunderbar abgerundete und ausgereifte Herrlichkeit, dass sie alles abschießt, was man in der Entführung zu hören bekommt.

(* Ein akzentuiert und doch zwanglos rollendes »R« ist einfach der Hit und kann wohl nur aus der Schweiz kommen)

Macy Gray: Blame It on the Sun
Album: Talking Book (2012)

Manche sagen es sei Innervisions (1973), andere halten Talking Book (1972) für das entscheidende Album, das aus Berry Gordys Wunderkind »Little Stevie Wonder« (The 12 Year Old Genius war 1963 das erste Nr. 1 Album von Tamla/Motown) endgültig Den Stevie Wonder machte, an dem die Superlative scheitern. Mich hatte seinerzeit der überbordende Ideenreichtum der Songs in the Key of Life (1976) beeindruckt, doch stets lag mir diese unverwechselbare Stimme quer. Kristallklar und strahlend brillant, gewiss, doch clean und klinisch rein liegen beieinander und die unbestreitbare Makellosigkeit hat in meinem Ohr etwas Aseptisches, eine Sterilität an sich, die meine Reserve aufrecht hielt. Ich musste an diese futuristisch anmutenden 70er-Jahre-Industrialmöbel aus Acrylglas denken, die sich für Fingerabdrücke und andere Lebensspuren bereithalten.

Einer Teilauflage der 2012 erschienenen kompletten Neueinspielung des Talking Book war ein Sticker aufgeklebt: »Macy’s love letter to Stevie Wonder on the 40th anniversary of his classic album«. Eine aufrichtige und glaubwürdige Widmung, denn die ganze Platte durchklingt eine rührend herzliche Ehrerbietung, die freilich ein helles Licht unter den Scheffel stellt. Dass man in TB ein großes und bedeutendes Album sehen mag, kann einem Macy Gray ganz gut erklären, doch wirklich zum Niederknien sind alle zehn Songs nur in ihrer mehr als kongenialen Neuerfindung. Aufgeraut mit feinstem Korn gewinnen sie eine Wärme und Tiefe, die dem hochglanzpolierten Original abgehen.

Nur unter Qualen kann ich mich für Blame It on the Sun entscheiden. Selbstvergessen sich wiegende Rhythmusverschiebungen über einer glockenhell cleanen Gitarre im ersten und einer fülligen Basslinie im zweiten Teil, machen aus der Klärung der Schuldfrage, im Vergleich zu der doch recht konventionellen Originalballade, eine ratlos kreisende Elegie, die einem den Weichzeichner übers Auge legt. But my heart blames it on her und ihre gleichermaßen unverwechselbare Stimme, der ich seit »I Try« vollkommen machtlos ausgeliefert bin.

Al Di Meola & Paco de Lucia: Mediterranean Sundance
Album: Friday Night in San Francisco (1981)

Dass dem Musischen ein kompetitives Moment nicht völlig fremd ist, muss nicht überraschen – Pan und Apollon, der Wartburg-Contest, DSDS – aber dann doch Stück für Stück nacheinander. In dem legendären Konzert vom 5. Dezember 1980 im Warfield Theatre von San Francisco treten drei der schnellsten Gitarristen (John McLaughlin, Al Di Meola, Paco de Lucia) in wechselnder Besetzung direkt gegeneinander an und jagen sich über einen waghalsigen Parcours. Ich bin eigentlich Anhänger eines rigorosen Tempolimits, doch liebäugle ich mit rechtsfreien Räumen.

Miles Davis Quintet: It Never Entered My Mind
Album: Workin‘ with the Miles Davis Quintet (1956)

So abgeklärt, doch besinnlich und noch gar nicht Avantgarde. Eher im Gegenteil: Musik für die Nachhut, die den Titel als zu spät kommendes wishful thinking versteht … von was allem hätte man das nicht gerne gesagt? – »It never entered my mind«.

Janet Jackson: Velvet Rope
Album: The Velvet Rope (1997)

Man muss schon an Boomer-Rock der 70er oder vorsätzliche LoFi-Bekenner aus den 90ern denken, will man von Melodyne und Autotune »abstrahieren«. Ach ja, die Allgegenwart der Algorithmen. Kaum zu glauben, dass diese zurecht so gerühmte Platte vor der Machtergreifung der Maschinen zustande kam. Doch ist es nicht (nur) die sensationelle (Prä-KI) Produktionsqualität, die auch nach einem Vierteljahrhundert noch so frisch und prickelnd ins Ohr perlt.

(Wer das reichlich geschmäcklerische Video scheut (Oh Afrika, du Wiege der Menschheit), mag auch in »Together Again« mal reinhören.)

© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Vox-Verstärker: Pixabay

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