Wer segnet das Zeitliche?
Ad primae partis quaestionem X
De Dei aeternitate. – Über die Ewigkeit Gottes.
Was ist die Zeit? – Eines der großen und gewichtigen Themen der Philosophie, eines das umso unheimlicher und lastender daherkommt, je klarer einem wird, wie sehr man selbst ihm unterliegt, geht Thomas irritierend leicht und flott von der Hand. Schüttelt uns Thomas reife Früchte vom Baum? – Das scheint kaum nötig, kommen sie ihm doch, offenbar überreif, von selbst entgegen! Fehlendes Problembewusstsein? – Mittelalterlicher Reflexionsstand? – Noch nix von Relativitätstheorie gehört? – No way! – Aber weshalb flutscht Quaestio 10 ihm dann derart locker durch?
HL und ich hatten ausführlich gerätselt, weshalb Thomas seine Leib-und-Magen-Autorität Augustinus gerade zu diesem Thema so gewissenhaft und auffällig unauffällig zu meiden sucht, obwohl er zweifellos dessen Bekenntnisse so gut wie auswendig kannte, und Tiefe, wie Schönheit seines elften »Zeit-Buches« ganz gewiss nicht weniger bewundert haben muss, als wir dies heute tun.
Zwar wird Augustinus dreimal marginal erwähnt (ST I, q. 10, a. 2 arg. 1 und ad 1, sowie ST I, q. 10, a. 3 co.), trägt aber zu Aufbau und Inhalt der Quaestio überhaupt nichts bei; das einschlägige 11. Buch seiner Confessiones (bis heute einer der Grundtexte der Zeitphilosophie) wird nicht einmal erwähnt.
Offensichtlich läuft Thomas an keiner Stelle der 10. Frage Gefahr, in eine Verlegenheit zu geraten, von der Augustinus in seinem berühmten Diktum berichtet:
»Was also ist (die) Zeit? Wenn mich niemand fragt, so weiß ich es; will ich es aber einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.« – »Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. (Conf. XI, 14)
Mag es sich bei der Zeit auch um einen besonders flüchtigen und damit schwer greifbaren Gegenstand handeln, die Irritation, von der Augustinus spricht, stellt sich regelmäßig und überhaupt bei beliebigen »Wesensfragen« ein. Anders als bei Fragen, wie »Wozu braucht man das?«, bzw. »Was soll ich damit?«, oder »Kann man das aufschrauben?« ist es die Unbedingtheit dieser vertrackten »Was ist-Fragen«, die uns erst ins Schlingern, dann vom Hundertsten ins Tausendste und schließlich in echte Verwirrung bis hin zu augustinischer Ratlosigkeit bringen kann.
Was macht Thomas? – Er stellt die fundamental(istisch)e Wesensfrage gar nicht erst! – Er unterläuft, umgeht, überfliegt sie sozusagen. Und macht sich die Frage nach der Zeit im Wortsinne handlich und handhabbar:
»Zur Erkenntnis der Ewigkeit gelangen wir (auf dem Umweg) über die Erkenntnis der Zeit, die nichts anderes ist als die Zahl der Bewegung (Veränderung) nach früher und später. Es besteht nämlich in jeder beliebigen Bewegung eine Folgebeziehung, in der ein Teil nach dem anderen kommt, aus der wir ein Vorher und Nachher in der Bewegung abzählen, und so erfassen wir die Zeit, die nichts anderes ist als die (Maß-) Zahl des Früheren und Späteren in einer Bewegung.«
»In cognitionem aeternitatis oportet nos venire per tempus; quod nihil aliud est quam numerus motus secundum prius et posterius. Cum enim in quolibet motu sit successio, et una pars post alteram, ex hoc quod numeramus prius et posterius in motu, apprehendimus tempus; quod nihil aliud est quam numerus prioris et posterioris in motu.« (ST I, q. 10, a. 1 co.)
Dies ist keine Wesenbestimmung, keine Antwort auf die Frage »Was ist (die) Zeit«. Vielmehr ist es eine operationale Einführung, die fast schon an die Aufbruchszeiten der Erlanger Schule erinnert. Statt durch metaphysisch-essentialistische Wesensdefinitionen bestimmt, sollten die Termini der Wissenschaften, ausgehend von einer theoriefreien Lebenspraxis durch schrittweise aufbauende Handlungsanweisungen methodisch operational eingeführt werden. Ein »Sein« wird also auf ein »Machen« zurückgeführt. Thomas’ Zeitbestimmung erinnert fast schon an Peter Janichs »Protophysik der Zeit«. Nicht die bodenlos fundamentale Frage nach dem Wesen der Zeit, so der aufklärerische Gestus der späten Sechziger, sollte einen »Methodischen Aufbau der Wissenschaften« leiten, sondern die Frage: »Wie messen wir Zeit?« – Zeit ist dann, ganz und gar metaphysikfrei und unessentialistisch, das, was wir mittels Zeitmessung erfassen. Die Frage nach dem, was die Zeit in ihrem Innersten ist, was ihren »Wesenskern« ausmacht, wird entlastend in die pragmatische Frage überführt, wie man gute Uhren baut. An die Stelle einer Wesensdefinition treten normierende Herstellungsanweisungen für homogen laufende Taktgeber.
Nun war Thomas gewiss kein metaphysikkritischer »Protokonstruktivist«, doch scheint klar, dass er, zügiger als zu erwarten, zu einer begrifflichen Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit kommen wollte, ohne sich in den Tiefen existentieller Zeiterfahrung zu verlieren.
Unproblematisch pragmatisch ergibt sich erst einmal: Wo es nichts zu messen gibt, das ist auch nichts (klingt richtig fies modern, gell?). Im Besonderen gilt: Wo es keine Bewegung geben kann, die nach dem Vorher oder Nachher ihrer Zustände »ausgezählt« werden könnte, da ist auch keine Zeit. Kurzum: Wo keine Bewegung, da keine Zeit, die zu messen wäre. Und dieser unveränderliche, bewegungs- und zeitlose Modus zu sein, ist die Ewigkeit.
Zum »Wesen der Zeitmessung« gehört, so fährt Thomas mit Aristoteles (Physik IV, 12) fort, dass Zeit zwischen einem Anfangs- und einem Endzustand ermittelt wird. – Mit dem Startschuss wird die Uhr gedrückt, und die Zeit sozusagen losgelassen und auf die Strecke geschickt, bei Erreichen der Ziellinie wird »die Zeit schließlich gestoppt«. – Wo es aber keine Zeit gibt, da können weder Anfang noch Ende einer Zeitmessung ausgezeichnet werden. – Also kennt die Ewigkeit keine Begrenzung der Dauer durch einen Anfang und/oder ein Ende.
Gott aber ist, wie in der systematisch korrespondierenden und vorbereitenden Vorgängerquaestio 9 gezeigt, vollkommen unveränderlich. Es kann weder an ihm, noch in ihm irgendeine Bewegung oder Veränderung stattfinden. Weder kann es eine »äußerliche« Veränderung etwaiger Akzidenzien an ihm geben, denn Gott hat keine Eigenschaften, noch kann sich das »innere« substanzielle Wesen Gottes jemals ändern, da es ja keine Teile hat (vgl. das zweite »Kontinuitätsargument« in ST I, q. 9, a. 1 co. Secundum).
Gott befindet sich allerdings nicht nur zufälligerweise und faktisch, oder eben gerade jetzt, den Winter über, in Ruhe, sondern jede Form der Veränderung ist ihm »begrifflich« unmöglich. Selbstverständlich stellt dies keinen Einspruch gegen Seine Allmacht dar, sondern will, lediglich logisch, besagen, dass Veränderlichkeit von Ihm nicht widerspruchsfrei ausgesagt werden kann.
Also kann es an, in und bei Gott schlechterdings nichts Zeitliches geben, wenngleich natürlich alles zeitlich messbar Bewegte aus Seiner Wirkmacht »natürlich« hervorgegangen ist, sozusagen allererst durch einen übernatürlichen Naturierer naturiert wurde. Gott ist damit, der aufgeweckte Leser wird es vermutet haben, kein Gegenstand der Physik. Die »Natürliche Veränderungskunde«, bzw. eine »Kinetik des Werdens und Vergehens« (so das antik-mittelalterliche Verständis einer »Naturphilosophie« bis zu Galilei und Newton) wird, insofern sie nach Gründen fragt und nach ursächlichen Prinzipien der Natur forscht, freilich unausweichlich und begrifflich zwingend bei (irgend) einer »natura naturans« landen müssen, aus der heraus ihr genuiner Gegenstandsbereich, die »natura naturata« allererst bewirkt worden ist, und ohne die es nichts Erforschbares zu erforschen geben könnte. Für Aristoteliker, wie Thomisten, ist also die »Natürliche Theologie« die methodisch vorgängige Disziplin der Naturwissenschaft, und damit die eigentliche »Protophysik« ;-).
Negationes rationabiles
Aber zurück zur Frage, weshalb Thomas ein anspruchsvolles Problem derart glatt und schematisch abhandelt. Meine, nach wie vor unbefriedigende, Vermutung geht dahin, dass Thomas gar keinen selbstständigen »Zeit-Ewigkeits-Traktat« im Sinn hatte. Vielmehr steht Quaestio 10 am vorläufigen Ende einer Sequenz von bislang fünf »Negationes«, in denen uns Thomas das »Enttäuschungsprogramm« einer Negativen Theologie vorexerziert hat. Streng disziplinierend, wenngleich wenig erbaulich, geschweige denn herzerwärmend, hatte er die methodischen Vorgaben der dritten Frage (die, soweit ich sehe, bislang konsequenzenreichste »Manifest-Quaestio« überhaupt) umgesetzt, und uns einen einfachen (Q. 3), perfekten (Q. 4), abstrakt-guten (Q. 6), unbegrenzten (Q. 7), unveränderlichen (Q. 9) und nun schließlich auch noch einen ewigen Gott vorgeführt, der uns in jeder bislang unternommenen Hinsicht so grundsätzlich anders anmuten muss, dass der Eindruck der Fremdheit durch kein, wie auch immer geartetes, tertium comparationis überwindbar erscheint.
Dieses durchaus autistisch anmutende Wesen zeigt uns nicht nur offenkundig, sondern regelrecht demonstrativ die kalte Schulter. Jedenfalls scheint es mit dem persönlichen Gott der Offenbarung nicht nur nichts zu tun zu haben, es scheint vor allem mit uns (einerlei ob wir Glaubende, Atheisten, Skeptiker, verklemmte Verdränger, oder angestrengt desinteressierte Agnostiker sind) ganz und garnichts zu tun haben zu wollen.
So soll es sein! – Eben dieser Skandal ist kalkuliert. – Bis an die Grenze eines vermeintlichen Widerspruchs gilt es Philosophie (inbegriffen die rein rational und offenbarungsunabhängig argumentierende »Natürliche Theologie«), und die Inhalte göttlicher Offenbarung ins Treffen zu schicken. – So muss es sein!
Ein abstützendes, oder gar fundierendes Begründungsverhältnis kann es ja zwischen Philosophie, als kritischer Disziplin menschlicher Vernunft, und den freigebig gewährten Inhalten der Offenbarung ohnehin nicht geben, wie uns der Aufmacher der »Summa«, die programmatische »Sacra-Doctrina-Quaestio« (ST I, q. 1) ins Stammbuch geschrieben hatte. Auch steckt nicht etwa die Vernunft den Einzugsbereich heilsnotwendiger Gewissheiten ab. Wohl aber hat ein eherner Grundsatz all unser Wissen und Glauben zu leiten. Er ist ein Satz des Glaubens und Prinzip der Vernunft zugleich:
»Gratia non tollat naturam, sed perficiat. – Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vervollkommnet sie. (ST I, q. 1, a. 8 ad 2)
Für das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bedeutet dies, dass die Heilsnotwendigkeit etwas aus übernatürlicher Quelle zu glauben, die menschliche Vernunft keineswegs korrumpiert. Es ist nicht widervernünftig Übervernünftiges zu glauben, vielmehr ist der vernünftige Umgang mit dem Übervernünftigen Merkmal eines »vernünftigen Glaubens« (im Gegensatz zu einem hybriden »Vernunftglauben«).
Andererseits bedeutet dies aber auch, dass uns kein Glaube an etwas zugemutet werden kann, dass der Vernunft widerspricht. »Credo quia absurdum« ist ein witziger, nonkonformistischer Slogan zur Kennzeichnung schwer verständlicher, mitunter kaum nachvollziehbarer Glaubensinhalte, jedoch ist er mit Vorsicht zu genießen, und keinesfalls wörtlich zu nehmen. Ansonsten müssten wir ja davon ausgehen, dass zwei Quellen menschlicher Gewissheit in uns miteinander in unauflösbarem Streit liegen würden. Im Glauben müssten wir uns gegen die Einsichten einer natürlichen, und damit gottgegebenen Gabe wenden. Gott, so müssten wir fürchten, hätte uns als eine fundamental dysfunktionale Fehlkonstruktion geschaffen, die sich entweder vernünftigerweise gegen ihren Schöpfer auflehnen muss, oder sich aber, gottgefällig und gehorsam, in perverser Verleugnung der eigenen vernünftigen Natur selbst zerfleischt, was, per reductio ad absurdum, nicht mit göttlicher (All-) Güte zusammen stimmen kann.
Die Gegenüberstellungen der ersten zehn Quaestiones sollen gewissermaßen die begrifflichen Anschlussstücke bereit stellen, an denen die Offenbarung inhaltlich andockt. Ihre kritische Aufgabe liegt nicht darin das Wort Gottes zu korrigieren, zu begradigen und uns genehm, akzeptabel und passend zu machen. Wohl aber richtet sich ihr kritisches Potential auf unser Verstehen der Offenbarung, die ja, aus einer uns derart fremden Quelle stammend, alles andere als selbsterklärend, geschweige denn selbstverständlich ist.
Glauben kann man jeden Scheiß! Aber sollte man das auch tun? Jeder Spacken glaubt irgendwie an irgendwas, mancher sogar an »Höheres«. Vorzugsweise jedoch glauben diese freilaufenden Geister in artgerechter Freilandhaltung, durchgeimpft und breitbandimmunisiert gegenüber eventuellen Nachfragen, am liebsten selbstständig, gerne auch originell, aber, bitteschön, privat. Vor allem aber, ohne dass sich das philosophieaffine Lehramt der Kirche, mit ihrem über die Jahrtausende gepflegten Ideenarchiv, und einer, mit allen Wassern gewaschenen, Argumentationsnavigation, klärend und kritisch »dazwischenschaltet«.
Esoterische Kontakte, private Offenbarungen, evangelikaler Solipsismus, schwärmerischer Jesuswildwuchs, zungenredende Pfingstler, die ekligen Happenings fundamentalistischer Amisekten, es ist ja beileibe nicht so, als ob es im Religiösen nichts zu sortieren gäbe.
Die begriffliche Ordnung der Natürlichen Theologie dient also nicht der Wahrheitssicherung, sondern der Unsinnsverhinderung!
Mag sich unsere persönliche Betroffenheit durch die vorangegangenen Gott-Welt-Unterscheidungen in Grenzen gehalten haben, die Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit kann uns kaum als ein distanziert zu betrachtendes Begriffsproblem, als eine Fragestellung begegnen, die man auf Abstand halten könnte. Schließlich geht es in ihr um Alles oder Nichts. – »Der Vorhang zu, und diese eine Frage offen?!«
Sein und Zeit
Gott ist nun also ewig, und allem, nach dem Maß der Bewegung gemessenem Zeitlichen diametral entgegengesetzt. Da Er das einzig völlig Unveränderliche, damit Zeitlose, damit wiederum Unterminierte und folglich das einzig existierende Ewige ist, sagt man auch, Gott sei seine eigene Ewigkeit »Nec solum est aeternus, sed est sua aeternitas« (ST I, q. 10, a. 2 co.).
An dieser seiner Ewigkeit, so lautet Die Verheißung schlechthin, lässt er einige von uns teilhaben. Die Gefahr, sich falsche, schlimmer noch, unsinnige Hoffnungen zu machen, liegt hier freilich näher, als andernorts. Wo sich der Wunsch als Vater des Gedankens allzu fürsorglich anbietet, ist Vorsicht ebenso angesagt, wie gegenüber der »Furcht vor falschen Feinden«.
Ewiges Leben ist kein natürliches Stadium menschlicher Entwicklung. Mag eine natürliche Tendenz, das desiderium naturale in diese Richtung zielen, auf natürlichem Wege werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Einem »aus eigener Kraft« gescheiterten Leben kann auch noch die Gnade fehlen. »Heilsgewissheit«, als Vertrauen auf einen Automatismus der Gnade, ist eine anmaßende Hybris, eine praesumptio, die als Sünde wider den Heiligen Geist nicht vergeben wird.
Weiterleben auf dem Bonuslevel, das Fortleben nach dem Tod, eine Verlängerung, Ausdehnung der Lebensspanne, gar Unsterblichkeit? – Gott sei Dank Fehlanzeige! – Wer möchte mit Ahasver tauschen? – Der Second Life-Account, das Leben als Double Feature, die ewige Wiederkehr des Gleichen, »Und täglich grüßt das Murmeltier«? – Gott sei Dank nicht! – Unendlichkeit und Heavy Life Rotation bleiben uns, mit Gottes Hilfe, erspart.
Doch wie groß hat unsere Sorge zu sein, dass »alles einfach so endet«? – Licht aus, und Ruh’ ist! – Hat nicht Epikurs Argument durchaus etwas für sich?
»Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Vergänglichkeit des Lebens zu einer Quelle der Lust, indem sie uns keine unbegrenzte Zeit in Aussicht stellt, sondern das Verlangen nach Unsterblichkeit aufhebt. […] Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.«
Weit beunruhigender, als diese, doch recht tröstliche Vorstellung, ist ja wohl die Furcht vor Verallgemeinerung, Vergesellschaftung, Vereinnahmung und Gleichschaltung. Ein Aufgehen in der Weltseele, ein trostloser Tropfen im Ozean, und viele analoge Gruselgeschichten mehr, sind es doch, die einem durch Mark und Bein gehen. Nichts will ich weniger, als einen Beitrag zur kosmischen Energie zu leisten. Bitte, bitte, lieber Gott, lass’ mich niemals Teil eines Ganzen werden!
Wir glauben an die Auferstehung des Fleisches, unseres Fleisches, und nicht an die Auferstehung von gemischtem Hackfleisch. Unsere Hoffnung richtet sich auf die Wahrung unserer Leiblichkeit, als unverwechselbarer Signatur unserer Individualität. Es stellt sich allerdings die Frage, wie sich in einem grenzenlosen Zustand völliger Bewegungslosigkeit, vollkommener Unveränderlichkeit, zeitloser Simultanpräsenz ohne Anfang und Ende, so etwas wie Individualität, oder auch nur »Selbstähnlichkeit« und Wiedererkennbarkeit auszeichnen ließe.
Für eine Entität, in der Sein und Wesen zusammenfallen, die weder entstanden ist, noch vergehen wird, deren Sein mit ihrer Ewigkeit zusammenfällt, deren simultane Lebensfülle in ihrer zeit- und veränderungslosen aktualen Soseiendheit besteht, stellt sich dieses Problem nicht. Doch welche Distinktionsmöglichkeiten bliebe unsereinem, dem kleinen Mann von der Straße, in der breiten Masse, dem Einen unter Vielen, unter den statisch-simultanen Bedingungen der Ewigkeit? – Schlechte Karten für identische Klone, die in Reih’ und Glied auf einem Möbiusband Schlange stünden!
Nur in der Zeit, in der kontingenten Folge unvorhersehbarer Vorhers und Nachhers, gelingt uns die Vereinzelung, um die es sich zu sorgen gilt. Nicht etwa durch planvolle Leistungen, einen zielstrebigen Pursuit of Happiness, oder Luftanhalten bis man blau wird, organisieren wir unsere Individuation. Vielmehr werden wir, was wir sind, durch das wachsame Erleben des Zufallenden, des Akzidentellen, das unserer nichtssagenden Substanzialität eine vielsagende Oberfläche verleiht.
Unser Leben dient also vornehmlich autobiographischen Zwecken. Es ist auf die Entfaltung, auf das Entspinnen einer Geschichte aus, deren Plot sich erst zwischen Anfang und Ende als unverwechselbar, singulär und einzigartig erweisen kann. Mit unserer Lebensgeschichte authentifizieren wir uns vor der Ewigkeit, hoffen, dass sie beglaubigt wird, und dass es dereinst für uns heißen mag:
Sei glücklich, mach die Augen zu,
NIEMAND, der empfinden wird, wie Du!
Maybe Sex Sells?
Die »Allegorie auf das menschliche Leben« von Guido Cagnacci (1601-1663) arrangiert das ikonographische Inventar barocker Vanitas-Darstellung in einer originellen Abwandlung. Die geläufigen Memento-Mori-Symbole der Vergänglichkeit (brüchiges und angeschlagenes Postament, Totenschädel, niederbrennende Kerzen, Sanduhr) und der Ambivalenz (Rose und Distel) werden aus dem Zusammenhang des zeitüblichen Vanitas-Stilllebens (Stillleben = französisch »nature morte«, bzw. lateinisch »natura morta«) genommen, und dem blühenden Leben sozusagen an die Hand gegeben, um es damit fast schon jonglieren zu lassen. Nicht nur, dass der Jugend kein genretypisches Spiegelbild des eigenen Verfalls kontrastierend entgegen gehalten wird, ist hier bemerkenswert, sondern dass das emporgehaltene Stundenglas fast schon gleichauf mit der sehnsüchtig avisierten Ewigkeit erscheint. Die Ewigkeit wird symbolisiert durch eine, sich selbst verzehrende und erhaltende, Schlange, den »Ouroboros«, der als archaisch-archetypisches Sinnbild der Autarkie, sozusagen ein »perpetuum vitale« repräsentiert. Die Ewigkeit erscheint uns neben der Zeit, als ein Modus menschlichen Seins. Sie begegnet uns nicht nur als ein, in vorfreudiger Hoffnung zu erwartendes, zukünftiges Upgrade menschlicher Möglichkeiten, vielmehr scheint die Ewigkeit in die Gegenwart hineinzuwirken, und bereits unser diesseitig-zeitliches Leben zu erheben.
© 2020 Christoph D. Hoffmann
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