Leben aus dem Überfluss
Ad primae partis quaestionem IV
De Dei perfectione. – Über die Vollkommenheit Gottes.
Wo liegt »das« Problem von Quaestio 4, im Gegensatz zu den (kleineren) Problemen ihrer drei Einzelartikel? Auf den ersten Blick erscheint die Untersuchung über die Vollkommenheit Gottes eigentümlich tief gehängt, gegenüber den wuchtigen, warnenden und teilweise regelrecht beschwörend anmutenden Ausführungen zur Einfachheit Gottes in der Vorgängerquaestio 3.
Der Ton von ST I, q. 4 klingt ein wenig nach: »… man hört und spricht ja oft von der ›Vollkommenheit Gottes‹, doch bei dieser missverständlichen Redeweise ist in mehrfacher Hinsicht Vorsicht geboten …« Der Einstieg in die Frage nimmt sich alles andere als systematisch und terminologisch aus. Tatsächlich wird die Vollkommenheit Gottes nicht nur indirekt, sondern über den irreführenden Sprachgebrauch dieser »Redeweise« eingeführt. Missverständnisse seien bereits etymologisch durch den gemeinsamen Wortstamm von »facere« (machen, ausführen, herstellen) und »perficere« (fertigstellen, zu Ende bringen) nahegelegt. Noch heikler, die enge Verwandtschaft von »factum« (das Gemachte) mit »perfectio« (das erfolgreich Fertiggestellte) und deren gemeinsame Herkunft aus dem Wortfeld des Herstellens von Werkstücken, die gut, besser, am besten sein können, aber, dem Wortsinn nach, als »Perfektion« immer als das Ergebnis eines gelungenen Herstellungsprozesses in Erscheinung treten.
Die Perfektion Gottes als eine nicht nur uneigentliche, sondern, wörtlich genommen, eigentlich grundfalsche façon de parler? – Thomas zitiert den Hiobkommentar Gregors des Großen, der diesen prekären Sprachgebrauch am liebsten vermeiden, zumindest aber als, eigentlich falsche, sprachliche Notlösung markiert sehen möchte:
»… allenfalls stammelnd können wir die Erhabenheiten Gottes widerklingen lassen, da er nämlich kein »Fakt« ist, kann er auch nicht »perfekt« genannt werden.
»… balbutiendo ut possumus, excelsa Dei resonamus, quod enim factum non est, perfectum proprie dici non potest.« (ST I, q. 4, a. 1 ad 1)
Nicht nur auf dem Feld der (opaken) Offenbarung, sondern auch im alltäglichen, vermeintlich unproblematischen Sprachgebrauch, ja sogar im präzisen Bezugssystem klarer und streng scholastischer Nomenklatur laufen wir offenbar Gefahr, uns in mehrfachem Wort- und Schriftsinn zu verstricken (vgl. ST I, q. 1, a. 10).
»Die Vollkommenheit Gottes« also als eine Redeweise, die, frei nach Nabokov, ohne Anführungszeichen bedeutungslos ist?
So will es scheinen, denn ein Entstehen, ein Her- und Fertigstellen kann es »in Gott«, nicht geben, da Gott als Erster unbewegter Beweger (ST I, q. 2, a. 3 co.) sozusagen ringsum »Anstoß erregt, ohne jemals selbst Anstoß zu nehmen.«
Erst recht auf dünnes Eis begeben wir uns, sobald wir zum Ausdruck bringen wollen, dass nicht nur Gott selbst vollkommen sei, sondern dass Er zugleich die Vollkommenheiten aller Dinge umfasse – »quod in Deo sunt perfectiones omnium rerum.« (ST I, q. 4, a. 2 co.) – Gott als Superlativ aller Superlative sei »universaliter perfectus« (loc.cit.).
Wie kann aber etwas, das weder Teile, noch Eigenschaften hat, und das auch keinerlei Verbindung zu anderen Dingen eingeht (ST I, q. 3, a. 6 und 8) das universale »gut gemacht« des gesamten Weltmobiliars in sich vereinigen? Gott als Kompositum all dessen was gut gelungen ist, gewissermaßen ein komprimierter Weltholismus, eine Weltseele, ein Abstract seiner eigenen Schöpfung, stünde im eklatanten Widerspruch zur Einfachheit Gottes, die jede Form von Zusammensetzung strikt ausschließt (loc.cit.). Artikel 3 fragt schließlich nach dem Verhältnis, in dem die Vollkommenheiten dieser Welt zur Vollkommenheit ihres außerweltlichen Urhebers stehen.
Eine vorläufige Bestandsaufnahme, ein erster Zwischenstand kommt an dieser Stelle natürlich absurd verfrüht daher, doch hatten wir mit Thomas bereits bis hierhin gewaltige Wegstrecken zurückgelegt, und zwar in gegenläufigen Marschrichtungen. Handelte Quaestio 1 vom vernünftigen Umgang mit dem Übervernünftigen, unserer »rationalen Aneignung« göttlicher Offenbarung, war Quaestio 2 der »induktiv« vorgehenden Rückfrage nach einem regress- und zirkelfreien Begründungsfundament gewidmet. Ihre fundierende, grundlegende Kraft bezogen die Fünf Wege aber aus dem »Jenseits der Prädikation«. Die fünf Begründungsenden von ST I, q. 2, a. 3 sind damit selbst jedoch weder Gegenstände in der Welt, noch »Satzgegenstände« unseres zusammensetzenden und trennenden, bzw. unseres urteilenden und behauptenden Verstandes. Quaestio 3 warnt dementsprechend nicht einfach nur vor unangemessen anthropomorphistischem Sprachgebrauch, die negativen Beschränkungen unseres Redens über Gott definieren vielmehr mit unmissverständlicher Schärfe eine Kluft zwischen oben und unten, Himmel und Erde, Gott und Mensch, wie sie steiler, schroffer und tiefer nicht sein könnte. Zwar erkennen wir Gottes Existenz aus seinen Werken, doch über Seine Washeit (quidditas) geben diese Werke nicht den geringsten Aufschluss. Im Gegenteil, all unsere gewagten »Analogien mit Bodenhaftung« sind in höchstem Maße missverständlich, um nicht zu sagen irrtumsträchtig.
Wie verträgt sich nun aber der »Gott unserer Gründe«, zu dem wir uns methodologisch reflektierend auf den fünf exemplarischen Wegen unserer eigenen Begründungen zurückgetastet hatten, mit der materialen Überfülle eines kreativen Erfinders und Machers, der alles, was er in die Welt gesetzt hatte, an den Feierabenden jedes seiner sechs Werktage in Augenschein nehmen und sagen konnte: »Perfekt! – So kann’s bleiben.«
»Das Problem« von Quaestio 4, nach dem ich eingangs fragte, und die verbindende Fragestellung ihrer drei einzelnen Artikel, ist der Vereinbarkeit eines schematisch-inhaltsleeren »Gründegottes« mit dem schaffenden, machenden, wirkenden und waltenden Schöpfergott der Offenbarung geschuldet. Auf der Frage nach der Vollkommenheit Gottes (Art. 1) und seiner Geschöpfe (Art. 2), sowie deren Verhältnis zueinander (Art. 3) lastet nicht nur das ganze systematische Gewicht der Gottesbeweise (Q. 2), ihre Beantwortung ist vor allem den strengen Disziplinierungen einer »Negativen Theologie« (Q. 3) unterworfen.
Wie kann man, sprachlich verantwortungsbewusst, in gewissenhaften Negationen über »die Position schlechthin«, also die Schöpfung in ihrem Verhältnis zum Schöpfer sprechen? – Quaestio 4 steht damit unter einer Spannung, die der aus Pascals Mémorial in nichts nachsteht, und wir stehen vor einem tocotronischen Problem: »Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss.«
Das soll natürlich nicht Thomas’ letztes Wort gewesen sein, doch macht er gar keinen Hehl daraus, dass die Rede von »Perfektion« außerhalb unserer vordergründigen »Qualitätskontrollen«, alles andere als selbsterklärend sei, und einer deutlichen begrifflichen »Nachjustierung« bedarf:
»Sed quia in his quae fiunt, tunc dicitur esse aliquid perfectum, cum de potentia educitur in actum; transumitur hoc nomen perfectum ad significandum omne illud cui non deest esse in actu, sive hoc habeat per modum factionis, sive non.« (ST I, q. 4, a. 1 ad 1)
Thomas scheint von einer stillschweigenden Unterscheidung zwischen »Verwerklichung« und »Verwirklichung« auszugehen, und schlägt vor, von naheliegenden Fertigungs- und Herstellungsprozessen abzusehen (sive hoc habeat per modum factionis, sive non), und deren Endergebnisse nicht etwa nur material, inhaltlich, gegenständlich, handgreiflich, sondern so allgemein wie nur irgend möglich in den Blick zu nehmen. Auch bei den gewordenen, entstandenen Dingen (in his quae fiunt) nennt man etwas »perfekt«, wenn es von der Möglichkeit (de potentia) in die Wirklichkeit (in actum) überführt wurde. Das Wort »perfekt« verweist dann nicht nur auf etwas, das material und qualitativ nichts zu wünschen übrig ließe, oder etwas, das weder verbesserungsfähig, noch -bedürftig wäre. Vielmehr bezeichnet der metaphysische Terminus »perfectus« unter einem höchst allgemeinen (und damit inhaltsneutralen) Gesichtspunkt schlechthin all jenes, dem es an Wirklichkeit nicht mangelt, dem zur vollständigen Verwirklichung seiner selbst nichts fehlt, dem an »Aktualität« nichts abgeht (omne illud cui non deest esse in actu).
Doch von nichts kommt nichts! – Nichts Wirkliches ohne verwirklichendes Wirken eines Verwirklichers, der sich selbst keiner äußerlich einwirkenden Verwirklichung verdankt. – So könnte eine »Kautelenkette« lauten, die sich aus gewissenhafter Verfolgung der via negationis ergibt, die Thomas in Quaestio 3 nicht nur vorgeschlagen, sondern unbedingt vorgeschrieben hatte.
Thomas schließt hier an den zweiten Weg der Quaestio 2 an, auf dem er die probatio des Daseins Gottes aus der »Wirkursache – causa efficiens« vorgeführt hatte (ST I, q. 2, a. 3 co. – secunda via). Die Eigenschaften der Wirkursache, und nicht etwa voreilig ausgesagte Qualitäten Gottes erlauben es Thomas die eingangs erwähnten Missverständlichkeiten auszuräumen. An dieser Stelle der Quaestionenfolge reicht es ja aus, zugleich (!) vom Gott der Fünf Wege, dem negativ bestimmten »Gott ohne Eigenschaften« und dem Schöpfergott sprechen zu können, ohne sich dabei in Widersprüche verstricken zu müssen.
Indem Thomas »Vollkommenheit – perfectio« terminologisch beschränkt und ausschließlich an die Rede von »Wirklichkeit, Verwirklichung« bindet, lässt sich zusammenfassen:
Gott als ungeschaffene und unbewirkte Wirkursache »unterliegt« keinem Entstehungs-, geschweige denn Herstellungsprozess.
»Vollkommen« ist Gott als vollständige Aktualität, der keinerlei Rest von unverwirklichter Potentialität anhängt. Gott subsistiert (»Subsistenz« meint wörtlich »das zugrundeliegende Feststehende), wie Thomas sagt (ST I, q. 4, a. 2 co. Secundum vero …) und ist damit unabhängiges, mangelfreies, unbedürftiges und in sich selbst ruhendes Sein.
Die Vollkommenheiten dieser Welt vereinigt Gott in sich, ohne sich dabei in die Welt zu »zerstreuen«, wie sich etwa die Teile einer Summe vergeben ließen, beispielsweise so, wie wir die gelesenen Teile dieser Summe auf die Sonntage im Kirchenjahr verteilen wollen.
Eine Ähnlichkeit zwischen Gott und seinen Geschöpfen (ST I, q. 4, a. 3) besteht nicht in einer, nach Gattung und Art bestimmbaren, Familienähnlichkeit, sondern in einer »Seinsverwandtschaft«, die sich aus Gottes Verwirklichung einer Welt von Möglichkeiten ergibt.
Es ist dies allerdings eine »Ähnlichkeit« zwischen einem subsistierenden Wirkenden und vielen verwirklichungsbedürftigen Bewirkten über ein himmelhohes »Wirklichkeitsgefälle« hinweg, so dass Thomas sich genötigt sieht, die Asymmetrie dieser Ähnlichkeitsrelation zu betonen (ST I, q. 4, a. 3 co.). Thomas illustriert dies an der Relation von Bild und Abgebildetem, die als »Urbild« und »Abbild«, sowohl zeitlich als auch begrifflich in einer asymmetrischen Vorher-Nachher-Relation stehen.
Vielleicht kann man sich diesen Umstand auch über die Unterscheidung von Fülle und Überfluss zurechtlegen. Gott ist als erste unbewirkte Wirkursache nicht nur selbstgenügsame Fülle von Wirklichkeit, sondern er wirkt über sich hinaus, ohne sich dabei zu verströmen, oder gar zu verausgaben. Der in die Welt wirkende Gott wird in seinem Wirken nicht weniger. Die Quelle alles Wirklichen produziert Überfluss, ohne selbst zu zerfließen.
Die Welt lebt aus Gottes Überfluss!
Doch dieser Überfluss, ängstlich und geizig gespart, lässt sich nicht auf die hohe Kante legen. – Also verschwenden wir unser Leben, denn wir haben’s weder verdient noch bewirkt! – Vor allem aber lässt sich aus allen Überflüssen dieser Welt niemals Fülle (zurück-) gewinnen. Ein Reverse Engineering der Wirklichkeit ist, Gott sei Dank, ausgeschlossen.
© 2020 Christoph D. Hoffmann
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