This Is Not a Love Song
Ad primae partis quaestionem VIII
De existentia Dei in rebus. – Über die Existenz Gottes in den Dingen.
»Ebenso gilt, dass räumlich verortete Dinge, insofern an ihrem Ort sind, als sie diesen Ort ausfüllen, und Gott erfüllt jeden Ort! Nicht wie ein Körper; vom Körper heißt es ja, er fülle einen Ort aus, insofern (von ihm) kein anderer Körper mit sich (zugleich am gleichen Ort) geduldet wird, sondern in dem Sinne, dass, wenn Gott an einem (bestimmten) Ort ist, (eben gerade) nicht ausgeschlossen wird, dass andere Dinge dortselbst sind. Vielmehr erfüllt Er in diesem Sinne sogar alle (insbesondere die bereits ausgefüllten) Orte, weil er all den räumlich lokalisierten Dingen ihr Sein gab, die all jene (in Frage kommenden) Orte besetzen.«
»Item, locata sunt in loco inquantum replent locum, et Deus omnem locum replet. Non sicut corpus, corpus enim dicitur replere locum, inquantum non compatitur secum aliud corpus; sed per hoc quod Deus est in aliquo loco, non excluditur quin alia sint ibi, imo per hoc replet omnia loca, quod dat esse omnibus locatis, quae replent omnia loca.« (ST I, q. 8, a. 2 co.)
Ein gewitzt-paradoxes und elegant über Bande gespieltes Argument für die »Ubiquität« Gottes. Ausgerechnet dort, wo sich die Dinge in der Welt ihren Platz streitig machen, und sich in einem räumlichen Verdrängungswettbewerb entscheiden muss, wer bleiben darf, und wer weichen muss, wird uns klar, wie und in welchem Sinne Gott »überall« sein kann.
Natürlich kommt Gott nicht als körperliches Ding unter Dingen mit seiner eigenen Schöpfung ins Gedränge. Auch ist Gott kein Bestandteil der Weltdinge, weder als Wesenskomponente, noch gar als bloßes Akzidenz beliebiger Gegenstände (non quidem sicut pars essentiae, vel sicut accidens – ST I, q. 8, a. 1 co.). Vielmehr ist Er simultan in allen Dingen, an allen Orten! Kontraintuitiv zunächst, aber durchaus widerspruchsfrei, denn Er ist in den Dingen als Ursache ihres Seins. Als causa efficiens, als erste unbewirkte Wirkursache, hatte er ja die Aktuierung der Dinge (aller Dinge, an allen Orten).aus ihrer bloßen Potenzialität heraus bewirkt, und sie damit allesamt in ihr Wirklich-Sein gesetzt.
Soweit ist uns das »Effizienzargument« ja bereits aus verschiedenen Zusammenhängen bekannt. Neu ist der Hinweis, dass die »Wirksamkeit Gottes« nicht auf den eigentlichen Schöpfungsakt, einen einzigen »Werdungs-, oder Seinsmoment« beschränkt ist (non solum quando primo esse incipiunt – ST I, q. 8, a. 1 co.), sondern dass Gott dauerhaft in »Seinen Dingen« fortwirkt, und sie damit in ihrem Sein erhält (sed quandiu in esse conservantur – loc. cit.), solange sie eben Bestand haben, bis sie schließlich vergehen und aufhören zu sein.
Die Allgegenwart Gottes, Seine »Omnipräsenz«, hat also nichts Ominöses, Holistisch-Weltseelisches, Pantheistisches oder gar Feinstofflich-Esoterisches an sich. Vielmehr zeigt sich die universale »Seinspräsenz« Gottes durchaus solide, handgreiflich (vgl. Header-Bild) und anschaulich, denn wohin man auch schaut, sieht man Ihn – klar und deutlich – unverschwommen und ohne Weichzeichner – nüchtern, und frei von Hallus und Visionen, clare et distincte – denn ausnahmslos gilt:
Alles was ist, ist, so wie es ist – ens qua ens – Sein Re-Präsentant!
Neben dieser allerallgemeinsten Seinsdiagnostik bringt Thomas im dritten Artikel zwei weitere Darreichungsformen göttlicher Gegenwart ins Spiel, die, wie Thomas sagt, den vernünftigen (und affektbegabten) Wesen vorbehalten ist.
»Auf eine andere Weise (kann Gott gegenwärtig sein), wie das Objekt einer Tätigkeit in dem (diesen Gegenstand intendierenden) Tätigen ist, so wie das Erkannte im Erkennenden und das Begehrte, im Begehrenden ist. Auf diese zweite Weise ist Gott in ganz besonderer Weise im vernunftbegabten Geschöpf, das Ihn, sei es durch einen einzelnen Akt, oder aber durch eine beständige Grundhaltung, erkennt, oder aber wertzuschätzen weiß.«
»Alio modo, sicut obiectum operationis est in operante, quod proprium est in operationibus animae, secundum quod cognitum est in cognoscente, et desideratum in desiderante. Hoc igitur secundo modo, Deus specialiter est in rationali creatura, quae cognoscit et diligit illum actu vel habitu.« (ST I, q. 8, a. 3 co.)
Die deutsche Thomas-Ausgabe übersetzt unisono mit »Liebe«: desideratum – »Gegenstand der Liebe«, desiderante – »Liebender« und diligere für »lieben«. Mit dieser Engführung stellt sich eine Frage klipp und klar:
Was könnten wir an Gott lieben (begehren, ersehnen, hoch- und wertschätzen), insoweit wir ihn bislang kennengelernt hatten? Vergegenwärtigen wir uns, dass wir uns momentan, und noch für eine ganze Weile, mitten in der rationalen, philosophischen, natürliche Theologie bewegen. Und die hat, nomen est omen est amen, frei von allen übernatürlichen Einflüssen, und damit strikt und unbedingt »offenbarungsfrei« zu sein!
»Gott ist als Erkanntes im Erkennenden (cognitum in cognoscente)«, das wäre hier der passende Claim, der treffende Slogan, der genius loci! Aber Liebe? – Zu wem, oder was? Der ursprünglich seinsbildenden und beständig fortwirkenden, seinserhaltenden Wirkursache alles Seienden? – Uiuiuiui, bin ich jetzt aber verliebt! – Nein, so läuft das nicht: This Is Not a Love Song!
Natürlich schreibt Thomas als Gläubiger, der sich als solcher weder selbst verleugnen kann, noch will. Wie vermutlich die Mehrheit seiner, nicht allzu zahlreichen, Leser aus ihren Herzen keine Mördergrube machen wollen, könnten auch HL und ich allenfalls durchsichtig verschleiern, dass wir dem Sinn- und Sachgehalt der Summa nicht völlig unempfindlich gegenüberstehen.
Es mag wohl schwieriger sein, sich ungläubig statt unwissend zu stellen, doch müssen sich das weder Thomas, noch seine Leser abverlangen, es gilt lediglich textkritisch die oberste methodische Direktive zu beherzigen:
Off limits für alle Glaubensinhalte! – Im Einzugsbereich der Natürlichen Theologie ist Offenbarung keine Inspiration, sondern Kontamination.
Da wären bei Thomas aber doch ohnehin Hopfen und Malz verloren, könnte man einwenden, schließlich ginge der ja nicht sonderlich sparsam mit den Inhalten der Offenbarung um, Es wimmele ja geradezu von Zitaten aus der Heiligen Schrift, und die würden auch nicht gerade als abschreckende Beispiele angeführt. Man solle es also mal nicht zu genau nehmen und bedenken, dass es ja das finstere Mittelalter war … – No way! – Wie pingelig die Summa einer Textkritik folgt, die genau diesen Standards genügt, stellt Thomas Quaestio für Quaestio unter Beweis. Deutlich wird dies an einem ganz besonders krassen Beispiel für methodische Selbstbeschränkung.
»Sed contra est quod dicitur Ioan. IV, spiritus est Deus.« (ST I, q. 3. a. 1 s.c.)
Bei diesem lapidaren Zitat muss sich Thomas so einiges verkniffen haben. Nicht, dass Thomas zum Johannesevangelium etwa nichts eingefallen wäre (Super Evangelium S. Ioannis lectura); nicht, dass hier nicht reichlich Wasser auf die Mühlen des »Theologen der Vernunft« geplätschert wäre; nicht, dass im »Gespräch am Jakobsbrunnen« Thomas nicht aus der innersten Seele gesprochen worden wäre (»Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen« Joh. 4, 22); doch Thomas lässt die versammelte Wucht johanneischer Logostheologie ungerührt links liegen und verwendet das hochkonzentrierte und gewichtige Zitat »Gott ist Geist« als vordergründig überleitenden Beleg für die schlichte These »Gott ist kein Körper«! (ST I, q. 3. a. 1 co.)
Was also wäre der Gegenstand unseres desiderium, unserer dilectio, unserer Liebe, wenn die Parteinahme eines persönlichen Gottes für sein auserwähltes Volk, seine Verheißungen, seine Gesetzes- und Landgabe genauso wenig eine Rolle spielen dürfte, wie der ganze Jesus-Film. »Jesus liebt mich, meinetwegen, dann ich ihn halt auch«, macht hier gar keinen Sinn. Die Bergpredigt, ein durch und durch sachfremder Text. Lazarus, verlorener Sohn, die Geldwechsler im Tempel, der Sturm auf dem See Genezareth, nie gehört, von Tod, Auferstehung und Himmelfahrt mal lieber ganz zu schweigen. Was bleibt, was also methodisch gesicherten Bestand hat, sind die bislang eingeführten Prädikate Gottes! – Welche davon finden wir »liebenswürdig«?
Etwas, das in mir wirkt? – Ein echtes Special für Hypochonder, die sogleich an handballgroße Tumore, oder Fuchsbandwürmer denken, Ubiquität, Omnipräsenz? – Das klingt nach NSA im God-Mode! Keine Privatsphäre, nicht mal eine gottfreie Zone zum Rückzug, zur Entspannung von all dem Druck ist uns gegönnt. Denn Er ist ja nicht nur aufdringlich überall, wir können uns ja nicht einmal vorstellen, dass Er irgendwo nicht präsent wäre, denn dieses Irgendwo könnte es ja gar nicht geben, sofern Er es nicht seinsmäßig erfüllte. Gott ist also unter unserem Bett, verbirgt sich hinter knarzenden Schranktüren, treibt sein Wesen ebenso in kalten, feuchten Kellern, wie auf spinnwebenverhangenen Dachböden. Aber Vorsicht, liebe Kinder aufklärerischer Eltern, freut euch nicht zu früh, denn im Gegensatz zum schwarzen Mann und Bogey-Man, Freddy Krüger, Michael Myers und Chucky gibt’s den ja wirklich, wie uns das der liebe Onkel Thomas schon bewiesen hatte (ST I, q. 2, a. 3).
Ich werde den Teufel tun, und versuchen, Thomas in zwei aufeinander folgenden Quaestiones den Verdacht des Question Begging, der petitio principii ans Bein zu binden. – Was kann an dem bislang vorgestellten holzschnittartigen Gottesprofil liebenswert und anziehend sein? – Das ist keine rhetorische Frage. Ich meine das ganz im Ernst. – Ich sehe hier erst mal zwei Kandidaten für eine »natürlich-philosophisch« gewährleistete Attraktivität Gottes:
(1) Gut, dass es mich gibt! (ST I, q. 5)
(2) Die Selbstliebe, der amor sui, genießt nicht erst, und nicht nur, über die christliche Demutsschiene einen schlechten Ruf. Narzisstische Selbstbespiegelung, autistische Selbstbestätigung, selbstreferentielle Attraktion führen zu Erstarrung, Stillstand, Selbstumkreisung, Endlosschleifen, Ego-Loops. Für den Satz »Gut, dass es mich gibt« hafte ich dankenswerter Weise nicht persönlich und kann ihn doch, in einem Anfall von Eitelkeitsfreiheit, voll und ganz unterschreiben.
(3) Gott ist diskret.
»Solange also ein Ding Sein hat, solange ist Gott bei ihm, gemäß der Art und Weise seines Seins.«
»Quandiu igitur res habet esse, tandiu oportet quod Deus adsit ei, secundum modum quo esse habet.« (ST I, q. 8, a. 1 co.)
Die fortdauernde, seinserhaltende Wirksamkeit Gottes in seinen Geschöpfen bedingt also keine Fernsteuerung, kein Marionettentheater, keine Einschränkung der Willensfreiheit. Stattdessen vervollständigt einmal mehr Seine Gnade die (jeweilige) Natur, der sie unbehindert freien Lauf lässt. Beinahe so, wie in diesem evangelischen Lied:
Lobe den Herren,
der alles so herrlich regieret,
der dich auf Adelers
Fittichen sicher geführet,
der dich erhält,
wie es dir selber gefällt;
hast du nicht dieses verspüret?
Joachim Neander
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