Pietätlos tönen zweckentfremdete Schnipsel aus den Gräbern. Geloopte Samples klassischer Bestände in artfremde Umgebung gezwungen, Geschnetzeltes zum frivolen Resteessen, die Memifizierung der Tradition … »das Grauen, das Grauen«. Wenn auch widerwillig, so muss man allerdings vereinzelte Ausnahmen eingestehen. Auf der stark erweiterten Neuauflage (2018) von Max Richters The Blue Notebooks (2004) erschien eine kuriose Kollage, die wirklich Eindruck macht.[1]
Das Hauptstück On the Nature of Daylight, ein elegisches Streichquintett im minimalistischen Arvo-Pärt-Stil, dient als Folie für Dinah Washingtons This Bitter Earth, das 1960 als gefälliges Clubstück auf Platz 1 der Billboard R&B-Charts ging. Jedoch wurden in der exquisiten Bearbeitung nicht einfach zwei fremdelnde Layer übereinander gezwungen. Auch kann man nicht von einem konventionellen Zitat in überraschenden Anführungszeichen sprechen.
Mit mildem Lösungsmittel wurden alle klebrigen Rückstände entfernt, die eine herrlich kultivierte Stimme in einer konformistischen Easy-Listening-Untermalung feststecken ließen. Vom unangemessen sorglosen Swing des Originals ist keine Spur mehr zu hören. In würdevoll vergrößerten Abständen kommen die sorgsam gereinigten Verszeilen auf einer wunderbar luftigen und durchscheinenden Unterlage zu liegen und strahlen einen unsentimentalen Ernst aus, der dem resignativen Text gerecht wird. Die abgeklärte Diktion lässt die bittere Klage so distinguiert und geradezu unterkühlt klingen, dass nichts kitschig Bittersüßes den Weg ans Ohr findet.
Doch auch Max Richters Originalstück gewinnt in der ungewöhnlichen Allianz ganz ungemein. Die Notebooks waren als »Protestsongs« gegen den »unprovozierten und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des US-Imperialismus« gegen den Irak gedacht. Allzu botschaftsträchtig gerieten die trauernden Streicher zum bemühten Bekenntnis und zur ostentativen Betroffenheitsgeste. Die Zweitverwertung in zahlreichen Filmen (unter anderem in Scorseses Shutter Island, 2010), joah, konnte er schon machen, doch erst auf den dritten Streich, als supporting act für die große Dinah Washington fand das Stück seinen rechten Ort und Wirkungskreis.
(Übrigens nicht das erste Mal, dass ich meine Vorbehalte gegen die sogenannte »Neoklassik« über Bord werfen musste. Richters fulminante Jahreszeiten hatten es mir bereits vor einiger Zeit angetan.)
[1] Dinah Washington: This Bitter World / On the Nature of Daylight auf Max Richter: The Blue Notebooks (2004 / Extended Reedition 2018)
Erschienen bei der Deutschen Grammophon, dem Gatekeeper klassischer Hochkultur, fand das Album des Berio-Schülers auch unter den Zuchtmeistern der Popkultur mehr als nur milde Gnade. Die strenge Pitchfork feierte die Notebooks als Best New Music mit einer beachtlichen 8.7 Bewertung.
© 2023 Christoph D. Hoffmann
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Dinah Washington: Wikimedia