Petitessen

Rote Blasen
»Der Aphorismus deckt sich nie mit
der Wahrheit; er ist entweder eine
halbe Wahrheit oder anderthalb.«

(Karl Kraus)

Das kostbar knappe Raumangebot zwischen allen Stühlen soll man besetzen bevor sich die uniformierten Reihen zur Einheitsfront geschlossen haben. Auf Ellbogenfreiheit ist zu achten.

Ein Anfangskuriosum: Warum beginnen die altehrwürdigen Novellen stets mit einem Spoiler? – Dem Plot wird die Spannung genommen, damit der Erzählfaden sich in Schlingen legen kann.

Aphorismen stehen zu Recht unter Verdacht. Sie fordern zu nickender Mitwisserschaft heraus. Alle fühlen sich (ein-)gesammelt und hinter enthymematischer Geste gerät jede Ungenauigkeit zu hintergründigem Raunen. Ein Geheimbund entsteht. Die Ellipse wird zum Erkennungszeichen. Esoterisch wird der »Mut zur Lücke« gelobt.

Aphorismen, wer macht denn so was? Eitle alte Säcke, die mit ihren famous last words präfinale Geltungsansprüche anmelden? Oder feige alte Säcke, die im glatten Gewebe aussichtslos überdachter Meinungen eine verlorene Masche frischer Einsicht ertasten? Anstatt zu schauen, wie weit sie beim Aufribbeln kommen, stopfen sie drum herum, und setzen einen Flicken darauf. – Unfreiwillig moribund muten beide Haltungen an.

Fußnoten: die Betonschuhe des Geistes. – Statt hurtig in die Puschen und zügig zu den Sachen, der Hang zum »Tiefgang« ins Hundertste und Tausendste. – Esprit in »Sizilianischen Stiefeln«? Wenn’s hochkommt, ein Blubbern an der Oberfläche.

Zitate, Fußnoten, Apparate – der morbus hermeneuticus wird beklagt. Die Abwesenheit authentischen Gedankenthums mag bedauerlich sein, doch witzige Schnorrer und clevere Kuponschneider können durchaus ihren ganz eigenen Charme entwickeln. Schlimm ist die Feigheit, die sich bibliographisch offenbart: »Der da war’s!« – Bei einer eigenen Idee an Gehirntumor denken, das wäre ein korrespondierendes Übel.

Pascals »mémorial«: Der mahnende Reminder, über dem Spatz in Hand, nicht die Taube auf dem Dach zu vergessen.

Spannung fließt nicht, sie liegt an. – Ein Vermögen, keine Leistung. – So lernte die Physik von der Literatur.

Männer reden nicht von Gefühlen, sie sprechen über Musik!

Platte Plots mit originellen Einfällen, überraschenden Wendungen, interessanten Neuigkeiten, schlimmstenfalls mit unvorhersehbarem Ausgang sollten, ganz in ihrem eigenen hurtigen Sinne, schleunigst mit dem Klappentext verschmolzen werden.

Glück? – Ein Wissen um die Möglichkeit!

Mit sich und der Welt im Reinen sein? – Ohne die Konjunktion hätte niemand ein Problem!

Depressionen haben Ursachen,
Trauer hat ihren Grund,
Traurigkeit jedoch braucht ein Talent.

Was einem entgeht, wenn einem nichts entgangen scheint? – Die Gedenk- und Trauerfeiern des Verlusts.

Der Teufel steckt nicht im Detail des Besonderen, sondern im Allgemeinen, das sich in der Konkretisierung entlarvt.

Die Mehrheit sagt: »ich sag’ mal …« – Die Minderheit antwortet: »… wir haben die Warnung verstanden!«

Rücksichtsloser Moralismus kommt gerne vorausschauend daher. Die Unbedingtheit des Prinzips scheint von vorneherein die Stundung der Treue zu ihm zu rechtfertigen. »Eben auch nur ein Mensch« zu sein, reicht oft für eine auskömmliche Kreditlinie hin.

»Comme il faut« – Viel strenger als im Deutschen. Dem lapidaren Sachzwang des »wie es muss« gehorcht es sich freilich leichter, als gründelnden Fundamentalontologismen: dem konformistisch ’runterziehenden »Man« oder, schlimmer noch, dem vernehmenden Tiefsinn des »Es gehört sich.«

Gute Vorsätze: Nicht der Plan, sein Leben zu ändern, sondern es mit akzeptablen Abstrichen »vertretbar« zu machen.

Sein Leben ändern – eine contradictio in verbo – es zu dem eines Anderen machen. Das scheitert nicht nur begrifflich.

Seligpreisung: Ein Leben von aquarellierendem Verlauf. – Verschwommene Vorstellungen davon zeigen die eigene Vertrocknung an.

Deine, meine, keine Meinung – Solipsismus, Subjektivismus, Relativismus – Bretter vorm Kopf, die uns die Welt bedeuten sollen.

Freelancers Traum: Autorenhonorare als »Sinngehalt« versteuern.

»Ich sag’ mal«, vorzugsweise »einfach nur so«, stellt eigentlich einen performativen Selbstwiderspruch dar: die eigene Anspruchslosigkeit an die große Glocke hängen wollen.

Vor allem eine metaphysische Figur führt ins finsterste Herz des Katholizismus: Me, myself and I. – Ein Opus Dei, wie es heißt. Ein trinitarisches sogar.

Das Blaue vom Himmel herab sollte sein Echo fürchten.
Es schreit zu Selbigem hinauf.

Die Irritation durch Wunder ist Wunder genug. Haben sie Zweifel an der Gewöhnlichkeit gesät, ist ihr Werk schon getan.

Es wurden Wunder und Gerüchte gestreut. Sand geriet in die Weltmaschine. Die Inquisitoren der Aufklärung werden aus dem Ruhestand gerufen: Wer zum Teufel war schuld an allem?

Die klammheimliche Freude, der herrischen Naturgesetzlichkeit eins ausgewischt zu sehen, übersieht mitunter, wer der dominanten Übermutter (big mother nature) den wunderbaren Dämpfer verpasste.

Zustimmung, Akklamation, Schulterklopfen – Wohlfeile Zuckerwatte, hartnäckige Adhesive, die Gemeinschaft und Zusammenhalt versprechen. – Die gleiche Ladung kleinster Teilchen wirkt den Klebrigkeiten zuverlässig entgegen.

Europäer schreiben keine Kurzgeschichten.
Wir haben nicht mal eine.

Mit der Wahrheit und nichts als der Wahrheit ins Haus zu fallen, geht bisweilen mit ausgeprägtem Selbstbehauptungstrieb einher. Rücksichtsvoller Weise – »jetzt haltet euch fest« – wird hier gern vor genialen Pointen gewarnt.

Als ob es nicht reichte, »Thesen in den Raum zu stellen.« Gerne stehen ihre Urheber gleich mit im Wege.

»Ich bin kein Mann des Wortes, …« – Wir schätzen die Einsicht und fürchten das »… trotzdem …«

Das gute Argument macht vor der Schwelle halt und wartet, bis es hereingebeten wird. Es kommt auf Freiersfüßen daher und steht nie mit leeren Händen da. Wird es abgewiesen, lässt es einen Gesichtspunkt zurück.

Lebensweltliches Argumentieren – ein kurioses Mitgefühl meldet sich zu Wort. »Lediglich lebensweltlich«, das müsse eben manchmal reichen. Besonders im »hier und jetzt« des »diesseitigen Lebens« auf der »sichtbaren Seite der Welt«, könne man oft nicht mehr verlangen. – Soviel Metaphysik für das bisschen Skepsis?

Ein gutes Argument bildet sich nichts ein.
Es bildet mir was ein.

Hinter jedem guten Argument steht das Wissen um die Natur der verhandelten Sache. Die Physik der Alten (Naturgeschichte, Sachkunde) wurde als Hauptfach belegt.

Die argumentative Zwanglosigkeit des »alles kann, nichts muss« mit Beliebigkeit zu verwechseln, gleicht dem Kopfschütteln ballernder Schrotschützen beim Anblick des Zielenden. – Der legt es darauf an, und drückt ein Auge dabei zu.

In jedem Engagement steckt das Wort »Gage«, und bestünde sie auch nur in solidarischem Schulterklopfen. – Der Gemeinschaft die Gemeinheit verweigern. – Lieber überkreuz statt angekreuzt. – Sich der Kollaborateursstimme enthalten und seine »Stimme aus dem Off« erhalten. – Es heißt »fick das System«, nicht »gründe eine Familie mit ihm.«

Natürlich ist die Mafia keine Erfindung der Medien.
Sie ist eine Erfindung Coppolas.

Moralisch gesinnten Vegetariern fehlt es an Geschmack. – Man mag nur einfach keine Blindverkostung. – Sehen können wollen, was auf den Teller kommt. – Die Ästhetik, nicht das kategorische Prinzip gibt uns Recht. – Insofern also doch eine ethische Angelegenheit.

Anti-Aging und Teen Spirit – hier macht Apartheid durchaus Sinn.

Kunst als Bildgebendes Verfahren: Affektresonanztomographie,
Rationalspiegelung,
Stimmungsszintigramm.

Einem Geschmack hinterherlaufen und ihn umstimmen wollen? Vergebliche Liebesmüh’! Wie andere Sachverhalte, haben auch Geschmäcker ihre Naturgeschichte. Aus dem Wissen, wie es zur Katastrophe kam, lassen sich freilich selbst im Hermeneutischen allenfalls Lehren für die Zukunft ziehen.

Spoiler-Alarm: Wissen wollen, wie’s ausgeht. – Ein durchaus ernstzunehmendes Interesse beim Porno. – »Nicht verraten, wie’s ausgeht!« – Das macht hier weniger Sinn.

Post coitum omne animal triste est – Ein starkes Argument, sich nicht das Rauchen abzugewöhnen.

»Ich schau’ Dir in die Augen, Kleines.« – Oder wollte ich sagen: »Du leuchtest mir ein!«

Metaphysische Requisiten: Man kann mit allem etwas anfangen. Erste Sätze gibt es wie Sand am Meer. Doch zu den letzten Dingen gelangen wir nur über erste Gewissheiten:

Liebe ist … – petitio principii.

Von Gedankenschwere entlastet, lösen sie sich vom Grund, steigen auf und zerplatzen an der Oberfläche: Sprachblasen.

Anders als bei Sprüchen, darf hier nicht geklopft werden. Das leiseste Schnipsen an den Rand ihrer Welt, und schon hat man den Überblick verloren. Bloß keinen eigenen Beitrag leisten, und du wirst mit prickelnden Einzelheiten belohnt.

© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Rote Blasen: Pixabay

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