Den Guten & Gerechten zum steten Trotze.
Für HL zum gegebenen Anlass.
Zur Causa Rosalía
Man ist ja durchaus versucht, sich ein bisschen zu echauffieren und mit der flachen Hand aufs erhitzte Vorhaupt zu klatschen. Nun hat es also auch sie erwischt. Ausgerechnet. Doch besser man kühlt erstmal runter, greift einen trefflichen Interpretationsansatz beim Schopfe und nimmt die Anklage für bare Münze, die gegen Rosalía Vila Tobella anhängig ist.
Mit stetig wachsender Begeisterung habe ich übers Jahr ihr phantastisch übergeschnapptes Crossover-Album Motomami[1] gehört, das nun im Herbst in einer, um einige Bonus-Tracks ergänzten, Plus-Edition erschienen ist. Rückwärtsgewandt, wie ich nun mal gestimmt bin, konnte ich mich fast ebenso herzlich für ihre beiden Vorgängerplatten erwärmen: Ihr traditionsbewusstes Debüt Los Ángeles[2] (2017) [die Himmelsboten und deren englische Botschaft sind gemeint] und ihr Popalbum von 2018 mit dem unheilschwangeren Titel El Mal Querer[3] [»Der böse Wille«], das ihr den internationalen Durchbruch, aber eben auch erheblichen Ärger einbrachte. Mir ist nun allerdings die Selbstbezichtigung einer Kontaktschuld auferlegt, denn ich schwärme für ein wirklich böses, böses Mädchen.
Schuldig bei Verdacht
Gewiss haben eine provokative Höchstbegabung, ihr enormer Lauf und der Hang zu herzerfrischender Impertinenz gehörig getriggert, doch hat sich Rosalía einem Verdacht ausgesetzt, der gegenwärtig nicht nur eine lebhafte Konjunktur erfährt, sondern als innovative Rechtsfigur auch die Imputation der Schuld mit sich führt.
Nachdem die allfälligen gender crimes mittlerweile schon etwas abgefeiert erscheinen, erfreut sich der Tatbestand der cultural appropriation wachsender Beliebtheit. Am etwas schwammig verfassten Deliktfeld der Mikroaggressionen ist er längst vorbeigezogen. Immerhin ist er universalistisch und makro genug, um schon zum Antisemitismus aufschließen zu können, dem sich jeder anverwandelt, der schon mal nach Flügen an die »Ostküste« gegoogelt hat.
Rosalía wird nun also beschuldigt, sich widerrechtlich und hegemonistisch eines immateriellen Weltkulturerbes bemächtigt zu haben. Vermutlich in Anbetracht der Tatsache, dass der Flamenco, dem sie ein Revival von erheblicher Reichweite spendierte, ohnehin als landläufige pars gilt, die die spanische Musik pro toto zu vertreten scheint, hatte sie es offenbar versäumt, artig um Erlaubnis zu bitten, sich respektvoll, wenn nicht gar ehrerbietig, inspirieren lassen zu dürfen.
Das hatten de Falla und Rodrigo zwar auch nicht getan, doch war ersterer als gebürtiger Andalusier aus Cadiz ein genuiner Flamenco-Landsmann und letzterer als Valencianer wenigstens einigermaßen südwärts orientiert gewesen. Aber eine in der Wolle gefärbte Katalanin, die ausgerechnet an der renommierten ESMUC (Escola Superior de Música de Catalunya) in Barcelona studierte, das ging den Erweckungsbehörden offenbar zu weit. Doch ganz so übersichtlich ist die crime scene nicht angelegt. Es ist nicht einfach nur ein lokalpatriotisch aufgeheizter Regionalkonflikt, der alten weißen Männern erlaubte, was einem außerordentlich selbstbewussten weiblichen Popstar verwehrt bleiben sollte. Wie immer ist es schlimmer, denn in der Causa Rosalía schwitzelt es völkisch identitär.
Das Corpus Delicti
Die Tradition des Flamenco in Gesang, Tanz und Instrumentalmusik wird von den andalusischen Gitanos[4] mit guten Gründen als autochthones Kulturgut reklamiert. Das wurde ebenso wenig bestritten, wie die Urheberrechte am kreativen Eigentum dieses oder jenen Stückes. Es geht um die exklusiven Nutzungsrechte und einen mit Zähnen und Klauen verteidigten Alleinvertretungsanpruch für eine allgemeine Charakteristik und den Wiedererkennungswert eines prominenten Genres, dessen Wurzeln sich im Dunkel der Geschichte verzweigen.
Der charakteristische und unverwechselbare Klang des Flamenco ist allemal doppeldeutig zu verstehen: Formal eigenartig zum musikalisch einen, »ethnoproprietär« eigentümlich zum strittig anderen.
Modo y compás flamenco
Dem common ear mag der Flamenco irgendwie spanisch vorkommen, ja sogar ins Orientalische, ungewohnt Exotische spielen, was an der typischen Verwendung des modo flamenco liegt, der sowohl der altehrwürdigen, doch mittlerweile aus dem Gehör geratenen, phrygischen Kirchentonart, als auch dem altgriechischen dorischen Modus entspricht. Anders als in der vertrauten Dur-Moll-Tonalität sind die Kirchentonarten (und die antiken griechischen Skalen) nicht in festen Intervallen über fixen Grundtönen geschichtet, sondern mit frei disponiblen Ganz- und Halbtonschritten jeweils auf einen definierenden Zielton hingeordnet.
In seiner fluiden Handhabung des Tonmaterials liegt der modo flamenco übrigens ganz im Geiste der Zeit, mag er sich doch partout nicht dem letzten Regularium ausschließlicher Zweigeschlechtlichkeit fügen. Die beiden Tongeschlechter »hart« und »weich« [sic!] beschreiben in strikt zweiwertiger Trennung das geläufige Tonsystem und bestimmen nach wie vor unser abendländisches Gehör.
Die ansatz- und übergangslos gebundenen Läufe und endlos anmutenden Legati verdanken sich dem compás flamenco, einer überlangen rhythmischen Einheit, die das kurzschrittige westliche Taktschema »überläuft«.
Enteignungskultur und Markenschutz
Beide Eigenarten, die melodische und die rhythmische, fallen tatsächlich aus dem formalen Bezugsrahmen »westlicher« Tonalität. Die unverwechselbare Besonderheit, der archaisch anmutende Klageklang des Flamenco, sein proprium also, verdankt sich den antiken harmoniai oder tonai. Die fanden mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Weg vom alten Griechenland sowohl südwärts um das Mittelmeer herum ins arabische Al-Andalus, als auch in Gestalt der Kirchentonarten über die byzantinisch-provenzalische Nordroute ins christliche Spanien, schlossen Freundschaft mit sephardischem Klanggut und machten sich auf der ganzen Halbinsel unentbehrlich.
In seinem liberalen formalen Gestaltungsrahmen bietet sich der Flamenco mit einladender Anschlussfreundlichkeit nach vielen »artfremden« Seiten an. Man erinnere sich nur an das atemberaubende Konzert Friday Night in San Francisco von Al Di Meola, John McLaughlin und Paco de Lucía, das keineswegs aus reinstem andalusischem Wasser schöpfte, sondern eine genrebildende Flamenco-Fusion hin zum Latin-Jazz vorführte.
Der Reiz dieser leidenschaftlichen Musik lag und liegt nicht zuletzt in ihrer kreativen Bindungsoffenheit und einer kulturellen Integrationskraft, die bereits in ihren Wurzeln gründet.
Eine multikulturelle Errungenschaft par exellence soll nun vor der cultural appropriation eines übergriffigen Multikulturalismus geschützt werden. Die Subkultur des Flamenco hat gefälligst in ihrer proprietären Nische zu bleiben. Denn nur mit einer trutzigen Wagenburgmentalität kann man sie verteidigen gegen die skrupellose Enteignungskultur unter Creative Commons und Public Domain.
Nee, das andere links
Eigentum galt der alten Linken als Diebstahl. Die Vergesellschaftung aller Güter, der geistigen zumal, hatte das Kollektiveigentum eines klassenlosen Internationalismus zu bereichern. Individual- oder Gruppeninteressen? Who cares?
Wenn, ja wenn es da nicht diese tapferen Helden der Reaktion gäbe, die sich eine Restauration kultureller Eigentumsrechte auf ihre Fahne geschrieben haben. Die neue Linke kämpft für das Ancien Régime, den partikulären Ständestaat, das feudale Lehens- und Güterrecht.
Sie verteidigt die Interessen ihrer identitären Mandanten mit der Schneidigkeit einer US-Sozietät für Markenrecht, oder sie nimmt sich ein Beispiel an diesen gewieften Zivilanwälten, die in amerikanischen Unfallstationen ihre Visitenkarten verteilen: Wo ein Schaden, da ein Anspruch, wo eine Minderheit, da die Moral.
Wen scheren da die ausstehende Lizenzgebühren an die pythagoreische Erbengemeinschaft? Von jenen Schmieden ganz zu schweigen, deren Hammerschläge dem musikalischen Magus und Urvater des Flamenco erst die Ohren geöffnet haben sollen.
Talent borrows, genius steals
Zurück zu Rosalías Eigensinn. Die nonkonformistische Multiculturella, seit früher Jugend eine leidenschaftliche aficionada des Flamenco, hatte sich bedenkenlos dessen »Eigentümlichkeiten« angeeignet und damit eines besonders niederträchtigen Eigentumsdelikts schuldig gemacht.
Ein ethnisch gebundenes Kulturgut sei von einer reinrassigen Mitteleuropäerin enteignet und Platte für Platte in den popkulturellen Hegemonialgeschmack verschleppt worden.[5] Als besondere Schwere der Schuld wurde eine unstatthafte Mimikry in Artikulation und Intonation angezeigt. Womöglich könnte eine gewisse Rundung der kantigen nordischen Konsonanten aber auch einfach nur der Singbarkeit geschuldet sein?
Los Ángeles (2017)
Vielleicht können es die Abgebrühteren unter den geneigten Lesern ertragen, mal in ein Lied aus ihrem Debütalbum Los Ángeles reinzuhören. Hier in einer geradezu pietistisch anmutenden Unplugged Session mit dem Gitarristen (und Produzenten der Platte) Raül Refree anlässlich des 80-jährigen Guernica-Jubiläums vor Picassos Bild im Museo Reina Sofía de Madrid.
Nun, die hochmütige Schändung indigenen Kulturguts ist offensichtlich, die Erniedrigung einer Minderheitenidentität mit Händen zu greifen. Dem achtsamen Sinn der Guten & Gerechten sei ergänzend mit einer kleinen Randbemerkung beigestanden.
Vom politischen Symbolwert von Picassos Epochenwerk mal abgesehen, bezieht sich das Lied nach einem Gedicht Antonio Machados (eines linksrepublikanischen Dichters der Generación del 98) auf die Gründung der kurzlebigen zweiten spanischen Republik am 14. April 1931, die nach dem verlorenen Bürgerkrieg (1936–1939) von Franco liquidiert wurde. Beklagt wird ein Opfer des Kampfes gegen die Falangisten und erinnert an einen etwas anachronistisch anmutenden Typus des Antifaschisten. Seinerzeit stellte der sich ins Feuer und fing sich Kugeln ein. Die gebückten Antifaspitzel von heute sammeln Fleißsternchen fürs Petzen ein. Ihnen möchte man die Kampfparole der Pasionaria entgegenhalten: ¡No pasarán!– »Sie werden nicht durchkommen« [mit ihrem wohlfeilen Denunziationsge(t)witter].
Doch müsste ich mich, wie eingangs erwähnt, einer reizvollen Deutungshypothese benehmen, würde ich ihr Bashing nicht beim Wort nehmen. Besser also, ich pirsche dem Durchmarsch der woken Hipster hinterher und versuche ein bisschen was dazuzulernen.
Nah am Quellton, ich will das gerne glauben, allenfalls mit behutsamem aggiormamento, stellte Rosalía mit Los Ángeles eine eindrucksvolle Anthologie diverser Subgenres des traditionellen Flamenco zusammen. Ein hochrespektabler Arthouse-Erfolg, wie man liest. Doch erst mit Ihrem zweiten Album ging sie durch die Decke.
El Mal Querer (2018)
Ungeheuer ambitioniert auch diese Platte. Vielleicht ein bisschen prätentiös ist sie den Kapiteln einer okzitanischen Troubadour-Romanze aus dem 13. Jahrhundert mit dem bezeichnenden Titel Le Roman de Flamenca nachgebaut. Einer Masterarbeit im Vertiefungsfach Flamencologie [doch, gibt es] am Konservatorium darf man das wohl nachsehen, zumal hier keine Spur akademischer Artigkeiten durchzuhören ist. Gleich das »Aufmacherkapitel« Augurio [das Omen, Vorzeichen] ging unter dem Titel Malamente in die Charts und machte aus Rosalía La Rosalía.
Es folgten Preise satt, reichlich Weihrauch aus der musikalisch interessierten, politisch allerdings zunächst noch unaufgeklärten, Weltpresse und etliche Kooperationen mit arrivierten big shots. Der hypersensiblen Klagemauer James Blake etwa verpasste sie mit Barefoot In The Park (2019) einen gänsehäutigen Twist, der einen fragen ließ, wer hier denn wohl wem das gönnerhafte »featuring« gewährte.
Ein Fressen für die Geier
Doch die politischen Kommissare der neuen Ordnung waren not amused. Verschiedentlich stellten sie die rhetorische Frage, ob Rosalía ein culture vulture sei. Ein Aasgeier? Was sagt das über ihre Beute?
In The Cambridge Language Collective, einem angesehenen und reichweitenstarken Blog der Universität Cambridge lesen wir:
»ROSALÍA: CREATIVE CHAMELEON OR CULTURE VULTURE?
Where to start? How about the countless controversies ROSALÍA has faced surrounding cultural appropriation? From the beginning of her career, with the release of her raw, stripped-back album of haunting flamenco ballads, Los Angeles, the Barcelona singer has profited off groups who have historically faced major discrimination at the hands of the Spanish. ROSALÍA came under fire for co-opting the profitable aesthetic and sounds of gitano culture without giving due credit to those who inspired her music. Rather, she repackaged said inspiration in a pseudo-authentic wrapping, marketing herself as a humble Spanish youth wishing to share her culture with the world.
Only it wasn’t her culture. Although flamenco is not strictly owned by anyone, it was created by the Andalusian Roma in the south of Spain, a group who still face discrimination and persecution. Purists argue that a catalana like ROSALÍA can only offer an illegitimate and inauthentic performance due to the cultural disconnect present between the north and south of Spain, especially between historically opposed ethnic groups.«
Nun ist die Uni Cambridge bekanntermaßen selbst eine Hochburg der Roma-Kultur, will es aber gleichwohl nicht versäumen, den einzigen Gitana-O-Ton [eine Twitter-Meldung immerhin] zu zitieren, den ich im Wirbelsturm der globalen Empörung ausmachen konnte.
»ROSALÍA’s detractors include the outspoken gitana activist Noelia Cortés, who in 2017 published this statement on Twitter:
›Being gitana is not an aesthetic. If what you sing was sung by a gitana, it would not be the same people listening to it on their phones. You with your expensive clothes and your nails and your things create a false aesthetic that connects itself to gitano culture, but without the racial factors and the consequences that come with these.‹« (Übersetzung: The CLC.) [Der Artikel wurde mittlerweile entfernt und durch einen deutlich wohlwollenderen ersetzt.]
Das böse Latinum
Die Kampfzone weitete sich aus. Jedenfalls hatte die Aasfresserin ihre Speisekarte beträchtlich erweitert und damit ungleich größeren und weitaus einflussreicheren Opfer-Communities ins Fleisch gepickt. Hatte sie in Los Ángeles noch puristische Gitano-Trennkost vereinnahmt, annektierte sie mit ihrem »bösen Willen« [El Mal Querer] R&B, Hiphop, vor allem aber latinokaribische Einflüsse. Der Reggaetón[6], selbst ein Jäger-und-Sammler-Genre (un)reinsten Wassers, ist mit seinen treibenden E-Drums und einem stark rhythmisierten, oft lautmalerischen Gesang aus der Popmusik ohnehin kaum noch wegzuhören.
Aber gerade hier, in der boomenden Domäne postkolonialer Ermächtigungskultur wanzte sich eine spanischsingende Kolonialistin dem vitalen melting pot der Latinx[7] an und grapschte sich im Rollgriff deren ganzes Familiensilber, das aus einem abgedrehten Stilmix aus Merengue, Salsa und Elektro-House besteht.
The Land of the Free …
… und natürlich the home of the brave, jene tapfere Schutzmacht aller Entrechteten und selbst ein geschundenes Opfer des Kolonialismus, suchte den panamerikanischen Schulterschluss mit ihren leidgeprüften lateinamerikanischen Bruder- und Schwestervölkern jenseits der Befestigungsanlagen und Internierungslager, die ja bekanntlich eine friedfertige Zusammenführung der Neuen Welt zum hehren Zwecke haben.
Afterglow, ein anspruchsvolles und durchaus ansehnliches Musikblog der University of Texas in Austin stellt klar:
»Before discussing the extent and history of Rosalía’s appropriation, one thing must be noted: Rosalía is appropriating. There is no arguing that because she is a white Spaniard, she does not have roots in the musical traditions of music she makes. Rosalía began her music career as a flamenco artist, often fusing the genre with elements of pop. The appropriation goes deeper than that when considering that Rosalía is Catalonian, and flamenco music is traditionally from Andalusia in the southern part of the country. Andalusia has a community of Roma people that are historically oppressed for their ethnicities and regional accents. At this point, even the Spanish side of her music is appropriative. Whether she is appreciating the music versus just using the music because she is successful can be debated, but she is appropriating a marginalized culture nonetheless.«
Auch hier wird die authentische Opferperspektive aus zweiter Hand zugefüttert: »Many Latinx people gave Rosalía the side-eye, as she is a white Spaniard making music associated with Latin American culture. This may seem trivial to the average English speaker who does not know the difference between cumbia and reggaeton, but considering the brutal history of colonization in Latin America, Rosalía’s appropriation feels even worse. Spain was the main colonizing force in the region, so much so that to this day a huge percentage of the population is mixed with ethnically Spanish ancestry. The tensions between Spain and Latin America remain. And from 2019 onwards, Rosalía has not been able to live down the appropriator allegations. But the arguments got even more explosive with her third studio album, Motomami.«
Ob Oxbridge-Highbrow oder College-WASP, bei aller Pikiertheit im politisch korrekten Comment, können die erziehungsberechtigten Volksaufklärungsschnösel allerdings eine klammheimliche Neigung kaum verbergen. Nicht immer, so gestehen sie zu, könne man so ohne weiteres appropriation von appreciation unterscheiden. – Ravishing … unprecedented … breathtaking … incredible vibrato techniques … oops, cought in the act. – Verdruckst und verklemmt versuchen sie ihre guilty pleasure zu bezähmen. Beim beflissenen Mokieren hört man sie schnipsen. Die blütenweißen Quarktäschchen haben eben einfach den Rhythmus im Blut.
Getrennte Entwicklung
The Conversation, eine australische Plattform für »explanatory journalism« [sic!], Untertitel: Academic rigour, journalistic flair, stellt unmissverständlich klar, worum es in der Kontroverse zuvörderst gehen solle: Die Einführung bzw. Aufrechterhaltung der Rassentrennung.[8]
»Rosalía’s success in the “Latin” music market as a Spaniard has been met with accusations of cultural appropriation – a term used to describe the thoughtless adoption of elements of a culture or cultural identity by someone who does not belong to it. Such accusations were particularly loud after the release of the distinctively reggaetón track Con Altura in 2019. […]. The issue deepened after her subsequent appearance on the cover of Vogue Mexico as a “Latina artist” (Latino/a refers to someone of Latin American heritage living in the US). The criticism gave rise to important debates about race, class and privilege in Latin and Spanish music.[…] Thanks to Rosalía’s whiteness and Europeanness she has received credit for bestowing Latin culture with an “originality” and “value”. However, that comes from harnessing and combining music rooted in cultural and ethnic backgrounds to which she does not belong.«
Doch hinter der Apartheid-Romantik und einer idealistischen Sehnsucht nach »getrennter Entwicklung«, stecken natürlich auch durchaus pragmatische Erwägungen.
Die Reise nach Jerusalem
The Appalachian weist auf einen beunruhigenden Sachverhalt hin:
»One of the most popular Hispanic artists in the world won two of this year’s Latin Grammy’s, but instead of congratulations, she’s faced with major controversy. […] The catch, however, is that Rosalia should have never received a Latin Grammy. Rosalia is not Latinx.
Promoting a false sense of what it means to be Latin and using it to one’s own advantage, otherwise known as cultural appropriation, is disrespectful to the artists who work hard to represent their culture in a global setting.
Hispanic music is already very popular. There is no shortage of Eurocentric celebrities, especially in the music industry. Continuing culturally inaccurate branding erases opportunities for diversity. […]
Rosalia’s music is taking up space that could be filled by real, unique Latinx artists who are often dismissed.«
Die Musikindustrie ist gewiss nicht zimperlich. Sind wir überrascht? Ihr strategisches Branding und eine berechnende Nischenpolitik folgen keiner grün-alternativen Quotenregelung. Ehrlich? Doch selbst wenn, die Besseren bleiben der Guten Feind und nehmen manch Hungrigem die Butter vom Brot. Das ist so voll gemein, wie beim politisch inkorrekten Kindergeburtstag. Immer fehlt bei der Reise nach Jerusalem ausgerechnet der Stuhl, der doch gerade dem armen Ausscheider zugestanden hätte. Wer hat sich das bloß ausgedacht?
Arvo Pärt, einer der bedeutendsten und meistgespielten klassischen Komponisten der Gegenwart, publiziert beim exklusiven Jazz-Label ECM. Darf er das? Außerdem ist er als einziger Musiker Träger des Joseph-Ratzinger-Preises (2017), des inoffiziellen »Nobelpreises« für Theologie. Auch ganz schön ungerecht. Welch wackerer Dogmatiker oder Neutestamentler musste in die Röhre gucken, weil ein Fachfremdling in seinem angestammten Revier zu wildern wagte?
Und was machen habsüchtige Mathematiker, die zu alt für die Fields-Medaille sind (wird nur bis 40 verliehen), dann aber wenigstens gern einen Nobeltrostpreis hätten, den es für Mathe jedoch nicht gibt. Sie veröffentlichen zur Ökonomie und greifen dreist beim sogenannten »Wirtschaftsnobelpreis« ab – zu Lasten der armen Nationalökonomen, die es ja nun wirklich auch nicht leicht haben. (Berühmtes Beispiel: Beautiful Mind John Forbes Nash Jr. (1994)).
Was kann man da bloß machen? Personalentwicklung statt Inspiration? Planstellenkultur vor schöpferischer Selbstermächtigung? Identitäre Quotierung jeder Kreativität? Das könnte wohl gehen. Und machen die nichtkompetitiven Waldorfspiele nicht auch viel mehr Spaß? Aber wir haben ja schon schön dazugelernt. Wir sind doch auf auf gutem Wege. Wir haben Fortschritte gemacht!
Aber genug von Rassenfrage und Verdrängungswettbewerb. Zurück zur Kunst und dem Lob der glorreichen Appropriation.
Motomami (2022)
Wie die respektlose spanische Fusionsküche die traditionsversessene Orthokulinarik von jenseits der Pyrenäen durcheinanderrührte und selbst die volkstümliche Paella nicht Fisch, nicht Fleisch, sondern beides zugleich enthält, lässt sich die findige Köchin den Geschmack nicht durch eine geizige Zutatenliste verderben. In die Pfanne kommt, was gerade vorbeistreamt und wer sich’s stilistisch leisten kann, schöpft eben aus dem Überfluss.
Angesichts des Shitstorms der spießigen Sittenwächter verweigerte Rosalía nicht nur jede Entschuldigung und demütige Betroffenheitsgeste, mit frecher Chuzpe und unwiderstehlich rotzigem Charme packte sie in Motomami [»Biker Chick«, »Motorradbraut«] noch eine fette Schippe obendrauf. Ihr anarchischer Eklektizismus geht aufs Ganze und pfeift auf die Summe der angeeigneten Teile.
Motomami+ (komplettes Album)
Mit dem Motorrad als solchen, sowie der anhängigen Symbolpolitik, scheint sie’s jedenfalls zu haben. In Saoko, dem ersten Song der Platte, nimmt sie den breitbeinigen Machismo prolliger Cojones-Schwinger aufs Korn. Mit quietschenden Reifen, qualmenden Donuts und angeberischen Wheelies macht sie sich die Errungenschaften einer brachialen Prekariatskultur zu eigen, die sich weder an angepasste Tempolimits, noch an untertänige Vorfahrtsregeln gebunden sieht. Wie authentisch diese feindliche Kulturübernahme zu verstehen ist, zeigt freilich die feinsinnige Linie eines Free-Jazz-Pianos, die an die elitäre Herkunft aus der Kunsthochschule erinnert.
In Chicken Teriyaki wird ein dadaistisch sinnentleerter Zungenbrecher zum Rhythmusgeber einer ikonisch gewordenen Handbewegung, die allein für sich genommen schon ein Welthit ist. Dabei kommt sie so schrill und campy rüber, als sei sie eben gerade aus einem Almodóvar-Film gehüpft. Überhaupt möchte man sich gerne vorstellen, wie Rosalía mit ihren Bitches in einem Nagelstudio abhängt und so lange in ihren Vanilla-Shake blubbert, bis es handgreiflich wird.
Nicht zurück zur Natur, sondern zurück zum manierierten Pathos des 50er Jahre Films scheint es in Delirio De Grandeza zu gehen, doch der Lo-Fi-Sound vergegenwärtigt das Zitat, um das es gehen soll.
Selten ist jemand so geschmeidig angeckt, an allem was sich brav gehört, im trutschigen Gender-Bewusstsein. Mit Hentai räkelt sich Rosalía vom Objektcharakter frei und legt dabei ein Verständnis von Body Positivity an den Tag, das den Old-School-Femen der Riot Grrrls querliegen dürfte.
In La Fama schließlich rehabilitiert sie den Typus der Femme Fatale in einer derart lasziven Weise, dass dem tantenhaften Paläofeminismus das Likörchen überschwappen muss.
Dass auf dieser Platte alles nur geklaut sei, ist wahr und falsch zugleich. Sie platzt aus allen Nähten, ob des reichen Diebesguts, den Rosalías Raubzug einbrachte. Doch kann von einem Jingle-Potpourri oder einer Sample-Datenbank nicht die Rede sein. Mit verspielter Raffinesse und subtiler Ironie zwingt ein souveräner Formwille die Versatzstücke des hundertfach Gehörten in das Unerhörte eines phantasievoll durchgeschossenen Panauditums der Popmusik.
Mein main Stream
Wenn nicht noch etwas Überraschendes auf den Adventsteller kommt, ist Motomami, neben Asmik Grigorians Rachmaninow-Liedern und mit einem Paso Doble Vorsprung auf Nilüfer Yanyas kühle Painless, meine Platte des Jahres 2022.
[2] Rosalía: Los Ángeles, Universal/Universal Music Group, 2017.
[3] Rosalía: El Mal Querer, Columbia/Epic/Sony Music, 2018.
[4] Die klischeebelastete Fremdzuschreibung »Gitanos« (man denke nur an die Zigarettenmarke) wird von den südspanischen Roma kurioserweise nicht als feindselig diskriminierend wahrgenommen, wie das spätestens seit Schnitzelgate beim bösen deutschen Z-Wort der Fall ist.
[5] Der linksliberale El País versucht sich in Ausgewogenheit und erteilt auch der Delinquentin das Wort: »I know where flamenco comes from,« she told EL PAÍS in 2018. »I have studied an entire degree on it. The flamenco experts have tried to explain its origins. It is the product of a mix of cultures. It owes much to the gypsy culture but music doesn’t have an owner.«
[6] Nicht zu verwechseln mit dem anglophonen jamaikanischen Reggae, rollte der Reggaetón ab den 90ern, ausgehend von den spanischsprachigen Antillen, über Süd- und Nordamerika die Popmusik auf.
[7] »Lantinx« ist die gender-neutrale, non-binäre, gründlich desinfizierte right speech für »latino/latina«.
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© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Rosalía live: Flickr | Motomami – Cover: © 2022 Columbia | Sony Music | Rosalía auf den MTV European Music Awards: Wikimedia | Los Ángeles – Cover: © 2017 Universal | UMG | El Mal Querer – Cover: © Columbia | Sony Music | Motomami – Cover: © 2022 Columbia | Sony Music