Kathartischer Schrecken

Eines der ersten Filmplakate der Gebrüder Lumière
Eines der ersten Filmplakate der Gebrüder Lumière ⎜ 🔍
Die Gebrüder Lumière

Die Gebrüder Lumière

Es heißt, am 6. Januar 1896 sei im Pariser Grand Café Panik ausgebrochen. Schuld daran wäre die Uraufführung des kaum einminütigen Schockers LArrivée dun train en gare à La Ciotat gewesen. Ein gemächlich einzockelnder Bummelzug passiert die, auf dem Bahnsteig stehende, Kamera in großzügigem Sicherheitsabstand, doch die Zuschauer hatten offenbar befürchtet, er könne sie überrollen. Das Entsetzen soll sich eine Weile gehalten, und die Gebrüder Lumière reich gemacht haben.

Doch schon bald musste der thrill mit höheren Geschwindigkeiten, gewagteren Kamerapositionen und riskanteren Einstellungen gepflegt werden. Mit der Zeit hatte sich herumgesprochen, dass die Leinwand ausreichenden Schutz vor der Wirklichkeit böte. Um den neuen Reiz zu retten, musste der Film auf Uraltes zurückgreifen. Er musste theatralisch werden.

Ein ahnungsloser Stellvertreter des wissenden Zuschauers steht, dem Publikum zu-, der herannahenden Schicksalslokomotive abgewandt, auf den Gleisen und macht Faxen – der Fuß eines panischen Hampelmanns klemmt in der Weiche – mitten auf dem Bahnübergang säuft der Wagen ab und springt nicht wieder an, der Lokführer gestikuliert, wir sind geneigt, von Stress zu sprechen – verschnürt wie ein Rollbraten, liegen wir quer über den Schienen und versuchen uns mit der Gewissheit zu trösten, dass näher kommende Gegenstände nicht wirklich größer werden.

Ob mit oder ohne Moral, der kathartische Schrecken entfaltet seine klärende Kraft nicht in der (dokumentarischen) Darstellung des Schrecklichen, er ist auf die »Lüge der Dichter« als seiner hygieiné téchne angewiesen. Es braucht die Suggestion unsichtbarer Inszenierung, um uns »persönlich kommen« zu können. Nur so kann ich es sein, der schwitzt, heult und sich anpisst. Nach einem trostlosen Besuch im epischen Theater nimmt ein freilich aufgeklärteres Publikum seine schlechten Säfte wieder mit nach Hause.

© 2022 Christoph D. Hoffmann
Bildnachweise
Filmposter: Wikimedia | Gebrüder Lumière: Wikimedia

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